Ein Herzschlag bis zum Tod
glücklichere Erinnerungen und freundlichere Gesichter ersetzt. Die Polizei hätte umgehend nach den Männern suchen können, bevor sie aus Vermont oder New York geflohen wären.
Es ist deine Schuld, wenn sie sie nicht finden
, sagte eine beharrliche Stimme in meinem Kopf.
Ich schaute auf den Wecker. 2.16 Uhr. Natürlich denkt man um diese Uhrzeit nicht logisch, doch ich konnte mich der nackten Wahrheit, der ich bislang ausgewichen war, nicht entziehen: Ich hatte nicht das Recht gehabt, diese Entscheidung zu treffen.
Du wolltest ihn für dich behalten
, sagte die Stimme. Ich streckte die Hand nach Tigers warmem Fell aus. Sie rührte sich kaum.
Stöhnend schwang ich die Beine über die Bettkante. Mir wäre es lieber gewesen, wenn mein Gewissen tagsüber erwacht wäre, dann hätte mich der Alltag von diesen scharfen, bohrenden Gedanken abgelenkt. Doch mitten in der Nacht gibt es keine Grauzone – nur Schwarz und Weiß. Ich beschloss, mir eine leichte Lektüre zu suchen, um die hartnäckige Stimme zu vertreiben.
|182| Im Flur hörte ich ein Geräusch aus Pauls Zimmer. Seine Tür war nur angelehnt, und ich schob sie vorsichtig auf. Im Schein des Nachtlichts konnte ich ihn zusammengerollt auf der Seite liegen sehen, mit dem Rücken zu mir. Die Decke lag in einem Haufen zu seinen Füßen, und ich ging leise hin, um ihn wieder zuzudecken.
Ich hatte mich gerade über das Bett gebeugt, als ich eine Bewegung hinter mir hörte. Ich wollte mich umdrehen und erahnte eine große, dunkle Gestalt, die auf mich zukam. Dann ergriff jemand meine Arme und legte mir die Hand über den Mund. Ich kämpfte still und verzweifelt, trat blindlings nach hinten und wollte mich befreien. Ich brauchte einen Augenblick, um das Flüstern in meinem Ohr zu begreifen: »Hören Sie auf, Troy, ich bin es, Philippe.«
Ich bekam vor Erleichterung weiche Knie. Die Hand löste sich von meinem Mund, und Philippe schob mich aus dem Zimmer. Wir gingen in die Küche.
»Was sollte
das
denn?«, herrschte ich ihn an.
Er kratzte sich am Kopf. Er war barfuß, trug ein weißes T-Shirt und eine blau-weiß gestreifte Pyjamahose. Sein Haar war zerzaust. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe gedöst. Dann bewegte sich jemand aufs Bett zu. Ich habe gemerkt, dass Sie es sind, aber Sie sollten nicht schreien und Paul aufwecken. Was hatten Sie eigentlich vor?«
»Ich konnte nicht schlafen und wollte mir etwas zu lesen holen. Dann hörte ich ein Geräusch aus Pauls Zimmer und wollte ihn wieder zudecken. Aber …« Ich war verwirrt.
»Was ich dort gemacht habe?« Philippe setzte sich an den Küchentisch und rieb sich das Schienbein, wo ich ihn mit der Ferse erwischt hatte. Er sah aus wie ein kleiner Junge, den man beim Plätzchenklauen ertappt hat. »Ich schlafe bei ihm.«
»Wo? Oben im Etagenbett?«
»Nein, im Sessel.«
Ich starrte ihn an, und er fügte hinzu: »Am frühen Morgen |183| gehe ich in mein Zimmer. Aber ich kann nicht … ich will ihn nicht aus den Augen lassen.«
Ich lehnte mich an die Arbeitsplatte und versuchte, den vorwurfsvollen Blick aus meinen Augen zu vertreiben. Mein Herz hämmerte. »Das ist doch normal. Aber Sie können nicht jede Nacht in seinem Zimmer verbringen.«
»Nein, natürlich nicht, aber fürs Erste … ich kann einfach nicht …« Seine Stimme erstarb. Er fuhr sich beinahe wütend durch die Haare. »Ich habe einmal zugelassen, dass er entführt wurde; ich habe nicht auf ihn aufgepasst. Fast hätte ich ihn für immer verloren.«
Ich ging zu ihm hin, kniete mich neben seinen Stuhl und legte die Arme um ihn. Ohne zu zögern umarmte er mich auch. Er war warm und roch ein bisschen nach frischer Wäsche und einem prickelnden Eau de Cologne.
»Es ist nicht Ihre Schuld, Philippe«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Sie können einen Menschen nicht immer beschützen.«
Seine Schultern bewegten sich in einem heftigen, lautlosen Schluchzen; ich rieb ihm den Rücken, der sich unter dem T-Shirt warm anfühlte. Er muss gespürt haben, dass es unbequem für mich war, auf dem Boden zu knien. Er stand auf, zog mich hoch, und wir klammerten uns schwankend aneinander. Ich rührte mich nicht. Unsere Herzen hämmerten in der stillen Küche.
»Philippe, ich kann nicht …«, flüsterte ich. »Dein …«
Deine Frau? Dein Kind?
Ich wusste gar nicht, was ich eigentlich sagen wollte.
Er legte mir den Finger auf die Lippen. »Ich weiß.« Vielleicht stimmte es, vielleicht auch nicht. Er zog mich mit sich in die
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