Ein Herzschlag danach
aus, als wüsste er, wovon ich rede. Vielleicht hatte er mein Geburtstagsgeschenk noch gar nicht ausgepackt.
Schnell fuhr ich fort. »Ich weigerte mich. Also nahm sie eine Schere, um es abzuschneiden. Sie kam auf mich zu … Im einen Augenblick hielt sie die Schere noch in der Hand, im nächsten Moment flog die Schere quer durchs Klassenzimmer und blieb in der Tafel stecken.«
Ich wagte es, ihn wieder anzuschauen. Er presste die Lippen aufeinander. Eigentlich war es doch ziemlich eigenartig, dass meine Kraft durch ein Geschenk ausgelöst worden war, das er mir gegeben hatte.
»Die anderen starrten mich nur verwundert an – ehrlich, ich hatte null Ahnung, dass ich es gewesen war.«
»Und dann?«
Erst jetzt merkte ich, dass ich eine Weile geschwiegen hatte. Ich war in Gedanken versunken – wie mich die Lehrerin angesehen hatte, als ihr die Schere aus der Hand gerissen wurde. Ich runzelte die Stirn.
»Das nächste Mal war dann ungefähr ein Jahr später. Wieder in der Schule, diesmal beim Mittagessen im Speisesaal. Jemand machte eine Bemerkung über meine Mutter und ich rastete total aus.«
Ich biss mir auf die Unterlippe; eigentlich wollte ich das nicht erzählen. Alex sollte nicht glauben, ich wäre labil und könnte meine Kraft nicht unter Kontrolle halten. Was zwar vollkommen richtig war, aber das brauchte er nun wirklich nicht zu erfahren.
»Normalerweise machen mir solche Bemerkungen nichts aus – ich war sowieso ein wenig distanziert, interessierte mich nicht für die anderen … Aber dieses Mal erwischte es mich auf dem falschen Fuß. Ich habe Mum so vermisst … und auch euch beide, dich und Jack.« Schon bei der Erinnerung daran verkrampfte sich etwas in meinem Magen. »Egal – jedenfalls sagte irgendein Mädchen was Blödes und ich warf ihr den Plastikbecher mit meinem Schokopudding an den Kopf.« Alex schwieg, also fügte ich schnell hinzu: »Natürlich ohne auch nur einen Finger zu rühren.«
»Das hast du wirklich getan?« Alex lachte laut auf. Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Ich musste auch lachen.
»Ja, es war natürlich ziemlich doof, aber sie hatte es verdient. Von diesem Tag an gingen mir die anderen aus dem Weg. Alle waren überzeugt, dass ich den Becher wirklich selbst, also von Hand, geworfen hätte. Hättest du doch bestimmt auch geglaubt. Ich kriegte natürlich Ärger, aber das spielte keine Rolle. Ich war fasziniert davon, was ich konnte. Deshalb begann ich zu üben. Zuerst mit Bleistiften und Büchern und irgendwelchem Kleinkram. Es dauerte ewig, bis ich es einigermaßen hinkriegte. Fast dachte ich, ich hätte mir alles nur eingebildet – bis ich es dann eines Tages kapierte. Ganz plötzlich, so ungefähr, wie man das Radfahren auf einen Schlag kapiert. Ich konnte Gegenstände bewegen, ohne sie anzufassen, und schon bald kam es mir völlig normal vor.«
»Bist du deshalb hierhergekommen? Wurdest du wirklich überfallen?«
»Ja, das ist wirklich passiert. Nur habe ich dir nicht die ganze Wahrheit erzählt.« Ich legte eine Pause ein. Alex schaute mich erwartungsvoll an, sein Gesicht verdüsterte sich.
»Ich … ich habe ihnen aber nichts getan!«, ergänzte ich schnell.
»Hey – ich wollte wissen, was sie dir getan haben!«
Er war nicht wütend auf mich, sondern auf die beiden Angreifer! Das war schon mal gut – alles war gut, solange er dabei nicht sauer auf mich wurde.
»Sie haben mir nichts getan. Natürlich wollten sie mir die Tasche klauen und haben mich mit einem Messer bedroht, aber ich weiß nicht, wie es geschah … Jedenfalls hielt ich das Messer im nächsten Augenblick selbst in der Hand. Nein, stimmt nicht – ich hielt es eben nicht in der Hand. Es war …« Ich konnte es nicht genau beschreiben, deshalb brach ich ab.
Alex bedeckte das Gesicht mit den Händen. Oh mein Gott – er hielt mich für eine Soziopathin, gemeingefährlich und völlig unfähig, sich und die eigenen Kräfte zu beherrschen.
»Ich wollte ihnen doch gar nichts tun! Und ich hab ihnen auch nichts getan. Ich wusste doch, dass das schlimm gewesen wäre. Danach schwor ich mir, die Kraft nie mehr einzusetzen. Aber dann passierte das alles hier und ich …« Mir ging die Luft aus.
Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Als hätte man ihm eben gesagt, dass sein Motorrad gestohlen worden sei.
»Wirst du es Jack erzählen?«
Er nickte nachdenklich. »Ich meine, er muss es erfahren.«
»Warum?« Auf keinen Fall wollte ich, dass Jack davon erfuhr. Ich wusste, im
Weitere Kostenlose Bücher