Ein Hueter erwacht
abrupt, als wäre der Gang an dieser Stelle zu Ende, obgleich er tatsächlich noch endlos weiter zu führen schien. Radhey machte eine eckige Halbdrehung, und noch bevor er den Raum jenseits der Türöffnung betrat, konnte er hineinsehen.
Die Kammer war leer.
Bis auf ein seltsames schwarzes Gebilde in der Mitte. Mit sehr viel Wohlwollen ließ es sich am ehesten noch als Altar bezeichnen. Aber es schien weder aus Stein noch aus Holz oder sonst einem herkömmlichen Material zu bestehen, sondern vielmehr - etwas Lebendes zu sein. Oder wenigstens doch etwas, das einmal gelebt hatte. Obwohl Radheys Phantasie nicht genügte, sich auszumalen, um was für eine Lebensform es sich dabei gehandelt haben könnte. Und je länger er gezwungen war, es anzustarren, desto weniger wollte er es wissen .
Das mysteriöse »Ding« war jedoch nicht der wirklich zentrale Punkt des Gewölbes. Das eigentlich Bedeutende hier war das, was sich in dem »Ding« befand - - die Quelle der Rufe, die Radhey Pai hierher gelotst hatten. Ein Gefäß.
Ein - Kelch!
Seine Form schien der Blüte einer Lilie nachempfunden, und er sah aus, als wäre er aus Abertausenden winziger Splitter zusammengesetzt, die selbst das geringste bißchen Licht auffingen und spiegelten und den Kelch wie in eine gleißende Aura hüllten.
Aus dem dunklen Gebilde darunter rankten sich Stränge wie die Tentakel eines Kraken an dem Kelch empor und hielten ihn fest. Doch sie schienen mürbe und brüchig, und im Nähertreten erkannte Radhey feine Risse darin. Es mußte leicht sein, den Kelch aus diesem Griff zu lösen, zu befreien - - und es war leicht.
Die dünnen Ausstülpungen des monströsen Altars brachen mit widerwärtig feuchtem Knirschen, als Radhey Pai die Hände um den Kelch schloß, ihn anhob und schließlich zurücktrat und den Raum verließ - - der sich plötzlich veränderte!
Erschrocken riß Radhey den Mund auf, doch kein Laut kam über seine Lippen. Noch immer hielt ihn das Fremde in seinem Bann.
Purpurnes Glosen füllte auf einmal die Wände der Kammer, als begännen die Steine in der Hitze unirdischen Feuers zu glühen. Im nächsten Augenblick schon schien das Mauerwerk nicht länger aus einzelnen Steinen zu bestehen, sondern ganz und gar aus diesem unheilvollen Leuchten.
Zugleich geriet Bewegung in das schwarze Gebilde, dem Radhey eben den Kelch entrissen hatte. Es blähte sich wie ein mißgestalteter Balg, seine Konsistenz schien wie die kochenden Teeres. Schlangengleich fuhren dünne Auswüchse daraus hervor, zuckten peitschend nach Radhey, der sich wie von einer Gigantenfaust zur Seite gedroschen fühlte. Gerade noch rechtzeitig - zwei, drei der teerigen Tentakel rissen dort Steinsplitter aus der Wand, wo er eben noch gestanden hatte.
Radhey Pai rappelte sich auf, den Kelch fest an die Brust gedrückt, und rannte los, ohne zu wissen, ob er wieder selbst Herr seines Körpers war oder ob ihn noch immer fremder Wille antrieb. Wie auch immer - der Beweggrund mußte im Augenblick derselbe sein, und er hieß: Nichts wie raus hier!
Wie ein Hürdenläufer setzte Radhey über die im Wege liegenden Toten hinweg. Über einen noch, dann würde er die Treppe erreicht haben, dann nach oben und - - Radhey stürzte! Eine totenkalte Klaue hatte seinen Knöchel im Sprung umklammert und den jungen Mann zu Fall gebracht.
Ein Schrei brach über Radheys Lippen, kaum daß er auf den Boden geprallt war. Schmerzhaft drückte sich ihm der Kelch gegen die Rippen. Doch dieser Schmerz war ihm in diesem Moment ebenso gleichgültig wie die Tatsache, daß er endlich die Kontrolle über seinen Körper zurückerhalten hatte - - denn der Anblick, der sich ihm bot, erfüllte ihn bis in die letzte Faser mit eisigem Entsetzen und erlaubte ihm keine andere Empfindung!
Eine ledrige Fratze stierte ihn an. Im allerersten Moment reglos -dann verzerrten sich die fast schon fleischlosen Lippen zu einem wi- derlichen Grinsen -- während entlang des Kellerganges die Toten auferstanden!
*
Wie von selbst schnellte Radhey Pais freier Fuß im Liegen vor - und mitten hinein ins mürbe Gesicht des Untoten, der nach wie vor seinen Knöchel umklammert hielt. Die Wucht des Trittes genügte, den anderen ein wenig zurückzustoßen. Seine steife Klaue rutschte ab.
Radhey sprang auf und rannte weiter. Ein hastiger Blick über die Schulter zurück verriet ihm, daß die anderen lebenden Leichen seine Verfolgung aufnahmen. Nicht sonderlich schnell zwar, taumelnd und unsicheren Schrittes, aber allein
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