Ein Hueter erwacht
Gasse entlang, mühsam Schritt um Schritt, und bei jedem glaubte Radhey, es müßte sein letzter sein.
Die Versuchung, sich einfach fallenzulassen, wurde fast übermächtig. Doch jedesmal, wenn er kurz davor war, dem Drang nachzugeben, fiel sein Blick wie zufällig auf den Kelch, den er nach wie vor fest an sich hielt, und dann war der Wunsch, diesen Kelch in Sicherheit zu bringen, doch größer als alle Müdigkeit.
Radhey stürzte regelrecht über die Schwelle der schloßlosen Tür und ins Dunkel des Häuschens, das ihm von Geburt an Zuhause war. Mehr reflexhaft als wirklich bewußt griff er haltsuchend um sich, riß dabei einen Stuhl um und irgendwelche Dinge von einem Regal, die scheppernd und klirrend zu Boden fielen. Dann sank der junge Mann auf die Knie nieder, keuchend und schluchzend in einem.
Die Ruhe währte nur zwei, drei Sekunden. Dann entstand im hinteren Teil des Raumes Bewegung. Etwas raschelte und ächzte, und schließlich glomm das rötlich-trübe Licht einer Öllampe auf. Ein Schatten kroch durch die Insel ihres Leuchtens und auf Radhey zu.
»Bei allen Göttern!«
Radhey fuhr erschrocken auf, als er angesprochen wurde. Die Wolke aus Alkoholdunst, die ihm mit den Worten entgegenwehte, beruhigte ihn jedoch ob ihrer Vertrautheit.
»Was ist mit dir, Radhey?« fuhr sein Bruder fort. »Du siehst aus, als ob .«
»Wie, Dinesh?« entgegnete Radhey und brachte sogar ein winziges Lächeln zustande. »Als ob ich dem Tod von der Schippe gesprungen wäre?«
Dinesh Pai nickte stumm. Alkohol und Staunen ließen seine dunklen Augen wie glasierten Stein schimmern.
»So war es auch«, flüsterte Radhey seinem älteren Bruder zu, dann sank sein Haupt vornüber, und sein ganzer Körper geriet wie unter heftigem Wind ins Wanken.
»Du redest irr«, befand Dinesh. Dann plötzlich veränderte sich sein Tonfall; die Besorgnis wich daraus, lauernde Neugier trat an ihre Stelle: »Was hast du da?«
Radhey spürte die Berührung Dineshs am Arm, sah, wie sein Bruder nach dem Kelch greifen wollte, und rückte hastig von ihm ab.
»Nichts«, sagte er rasch. »Nichts, was dich etwas anginge!«
»O doch!« erwiderte Dinesh. »Wir sind Brüder, Radhey. Wir sollten alles teilen. Das wäre auch der Wunsch unserer Eltern.«
»Nicht wieder diese Tour!« Radhey zog sich auf Knien noch ein Stück weiter zurück.
Dinesh war sein Bruder, und er liebte ihn, ohne Einschränkung und aus tiefem Herzen. Aber es gab Momente, da haßte und verabscheute er ihn in fast gleichem Maße. Immer dann, wenn Dinesh zuviel getrunken hatte und keinerlei Hehl mehr daraus machte, daß er im Grunde einzig auf Kosten seines kleinen Bruders lebte; wenn er behauptete, Radhey wäre ihm dieses oder jenes schuldig - im Gedenken an ihre verstorbenen Eltern ...
Ums Haar hätte Radhey ausgespuckt! Wo immer die Seelen ihrer Mutter und ihres Vaters sich befinden mochten (Radhey war kein sonderlich gläubiger Mensch), sie mußten sich mit Grausen abwenden, wenn sie sahen, was für ein elender Hund ihr Ältester bisweilen sein konnte!
»Zeig her!« verlangte Dinesh, und der Glanz seiner Augen veränderte sich, wurde zu einem metallischen Schimmern.
»Nein! Laß mich!« Radhey barg den Kelch in beiden Händen. Längst ging es ihm nicht mehr nur darum, sich gegen seinen Bruder durchzusetzen. Vielmehr mußte er den Kelch vor jedwedem Zugriff und allen Blicken schützen!
Zur Not mit seinem Leben .
Seltsame Bilder entstanden und vergingen vor Radhey Pais geistigem Auge. Begriffe dröhnten ihm, unhörbar für jeden anderen, im Ohr. Eine fremde Kraft (der Kelch?) wollte ihn dazu bewegen, sich zu erheben, um den Weg fortzusetzen, jetzt - sofort! Den Weg zum . Dunklen Dom .?
Noch immer wußte Radhey nicht, was es damit auf sich hatte. Ebensowenig kannte er den Weg dorthin, was und wo immer dieser Ort letztlich auch sein mochte. Aber er war sicher, daß er ihn finden würde - irgendwie .
... nur jetzt nicht. Er war müde, zu Tode erschöpft. Er mußte sich erst ausruhen.
»Dinesh!«
Radhey schrie erschrocken auf, als er den heftigen Ruck spürte. Alle Lethargie schien mit einemmal aus ihm zu weichen, als er sei-nen Bruder ansah - in dessen Hand nun der Kelch lag!
»Nun hab dich nicht so«, grinste Dinesh, sprang auf und lief zurück zu der Lampe. In deren Schein begutachtete er den Kelch. »Sag, was ist das für ein Ding?« fragte er. »Wo hast du es her?«
Radhey folgte ihm, doch die Furcht vor der überlegenen Kraft des Bruders ließ ihn zögern. »Das kann
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