Ein Hueter erwacht
hatte. Doch mehr als die Trauer über den Verlust der Sippe, meiner Familie, traf mich der Schmerz des Wissens um meine Zukunft: Ich war dazu verdammt, sie in Einsamkeit zu verbringen .
Ich brauchte lange Jahre, bis ich mein Schicksal endlich in den Griff bekam. Ich zog umher, mit meiner einstigen Heimat nur durch eine Handvoll Asche und Staub verbunden, die ich vom Boden nahm, ehe ich Berlin verließ und fortan in einem Beutel bei mir führte: Heimaterde, die ich nach alter Sitte auf meine wechselnden Lager streute, so daß ich Ruhe darauf fand.
Schließlich ging ich mehr und mehr unter die Menschen, deren Gesellschaft mir letztlich lieber war als ewige Einsamkeit, und mit der Zeit wurde ich in gewisser Weise einer von ihnen. Ich lebte mich ein in ihre Gepflogenheiten, und meine besonderen Talente und Kräfte, die mich über jeden Menschen erhoben, ermöglichten es mir, das zu werden, was sie wohlhabend und erfolgreich nennen.
Zu dieser Zeit traf ich auch auf dich, mein lieber Alfred. Aus der besten Butlerschule Englands erwählte ich mir dich zum Leibdiener. Das mag anfangs durchaus ein Spleen meinerseits gewesen sein, inzwischen aber bist du so sehr Teil meines Lebens geworden, daß ich dich nicht mehr missen möchte.«
Geraint lächelte, ganz ohne wie auch immer geartetes Beiwerk, sondern schlicht so, wie es ihm vom dunklen Herzen her kam - auf seine ganz besondere Weise glücklich.
»Und nun scheint es, als würden wir ein neues Kapitel in Eurer Geschichte aufschlagen«, meinte Alfred nach einer Weile, in der sie einander nur schweigend angesehen hatten. Er wies auf den Kelch.
Geraint nickte.
»Möglicherweise.« Er nahm den Kelch in die Hand und fuhr fort: »Ich habe dir ja schon vieles über den Lilienkelch erzählt, Alfred. Daß er sich bis vor knapp dreihundert Jahren in der Hand des Hüters befand, der damit von Sippe zu Sippe reiste, um vampirischen Nachwuchs zu taufen. Dann aber verschwanden Kelch und Hüter, und niemand wußte, weshalb oder wohin. Den Sippen wurde der Verlust erst nach und nach bewußt, schließlich kam der Hüter nur wenige Male in hundert Jahren zu ihnen. Schließlich verbreitete sich das Gerücht jedoch, und alsbald wurde Gewißheit daraus. Nicht zuletzt durch einen Vampir namens Landru, der sich selbst zum Jäger des Lilienkelchs ernannt hatte und versuchte, das Unheiligtum wiederzufinden. Ohne Erfolg jedoch, wie ich hörte.«
Wieder schwieg Geraint eine Zeitlang, sah sinnierend auf den Kelch in seiner Hand.
»Daß der Gral gerade jetzt wieder auftaucht, scheint mir wie ein Wink des Schicksals«, sagte er dann. »Wer immer ihn einst gestohlen und über die Zeit versteckt haben mag, hat ihn vielleicht ganz bewußt jetzt wieder freigegeben. Weil es Zeit ist für einen Neubeginn.«
»Ihr meint, das Verschwinden des Kelchs und das unerklärliche Sterben der Alten Rasse, das wir im vergangenen Jahr auf unseren Reisen beobachten mußten, wäre vergleichbar mit der -«, Alfred zö-gerte kurz, weil er wußte, wie übel seine folgenden Worte Geraint aufstoßen mußten, »- biblischen Sintflut?«
In der Tat zuckte der Vampir kurz zusammen, wenn auch kaum merklich. Er räusperte sich und rückte wie unbehaglich in seinem Sessel hin und her.
»Die Parallele scheint mir eindeutig«, erwiderte er nickend.
Alfred sah seinen Herrn an, und in seine Züge schlichen sich Zweifel ebenso wie Überraschung.
»Das heißt ...«, setzte er schließlich an. »Ihr wollt ...?« Er deutete zögernd in Richtung des Kelches.
Geraint nickte.
»Ich sagte doch: ein Wink des Schicksals. Die Alte Rasse ist nahezu ausgerottet, der Hüter seit langer Zeit verschwunden - und mir wurde der Gral in die Hände gespielt. Welchen anderen Schluß läßt all dies zu?«
»Ihr wollt ihn benutzen«, stellte Alfred fest, und es klang nüchtern, fast resigniert. Es stand ihm nicht zu, seinem Herrn zu raten oder abzuraten. Wohl hatte er es in der Vergangenheit mitunter getan, und Geraint war seinen Empfehlungen bisweilen sogar gefolgt; in diesem Fall jedoch schien es ihm von vornherein aussichtslos.
»Natürlich«, erklärte der Vampir frei heraus. »Weshalb sonst sollte ich ihn bekommen haben?«
»Darf ich Euch daran erinnern, daß Ihr ihn nicht bekommen, sondern erworben habt«, warf Alfred ein. »Was mir ohnedies nicht erklärlich ist - ebensogut hättet Ihr den Händler dazu bringen können, Euch den Kelch ohne Bezahlung zu überlassen. Eine Million Pfund ...!« Er schüttelte tadelnd den Kopf -
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