Ein Jahr – ein Leben
Thomas Thieme Albert Camus und biblische Texte des Propheten Salomo gelesen. Ich wollte das eigentlich nicht machen.
Warum? Weil es zu viel wurde?
Nein, weil ich die Bibeltexte fast nicht begriffen habe. Ich komme in Wolfsburg an, und Thieme sagt auf seine einmalige Art sofort: »Ham Sie das verstanden?« Sage ich: »Thieme, Ihre Texte schon, Sie lesen Camus, über den Selbstmord, da verstehe ich jeden Satz.« Aber das »Buch des Propheten«, diese retardierende Sprache, daran musste ich lange feilen. Wenn Sie mein Manuskript sehen würden, das sieht ohnehin immer eher wie ein Notenblatt aus, überall stehen Zeichen, wie ich was lese, wo ich Pausen mache, wo ich Atem hole, wie bei einer Partitur. Die Blätter waren diesmal so voller Zeichen, dass man fast keine Buchstaben mehr sehen konnte. Das Buch Salomo beschäftigt sich mit der Frage des Lebens: Warum leben wir? Und lohnt es sich? Geschrieben in einer Sprache, die uns heute fremd ist, die ich mir erarbeiten musste. Aber: ausverkauft, und anschließend haben die Leute im Stehen applaudiert.
Lohnt sich das Leben?
Als junger Mensch war das meine Hauptfrage, und ich hatte keine Antwort darauf. Heute habe ich so viele. Ich habe begriffen, dass diese philosophische Frage sich nicht in einer simplen Frage-Antwort-Konstellation erschöpft. Ich nehme das Leben heute als das wahr, was es ist, als einen ungeheuren Reichtum, als Vielfalt, als Widerspruch. Ich kann heulen, lachen, suchen, finden, fragen, bin mal wütend, mal traurig oder überheblich, klein, groß, bin gescheit oder dämlich, schwach oder fordernd. Ich begreife und stolpere trotzdem, alles das. Atmet einmal tief aus .
Das ist die Antwort, die Sie als junge Frau nicht hatten.
Ich setze mich all diesen Gefühlen so gerne aus. Das war früher nicht so. Da dachte ich, wenn alles schon mal gedacht, gelebt, empfunden worden ist – warum soll ich das noch mal wiederholen? Ich finde übrigens, dass diese Fragen und meine Antwort von damals nach wie vor richtig sind.
Ihren Selbstmordversuch?
Ja. Im Alter von 19 Jahren konnte ich mir die Antworten, die ich heute weiß, noch nicht geben. Aber sich diese Fragen zu stellen und eigene Antworten darauf zu suchen, sich diese Freiheit zu nehmen, das muss stattfinden. Ich glaube nicht, dass es unmoralisch ist, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Es ist für Menschen, die einer Religion angehören, die einen tiefen Glauben haben, eine Sünde, aber nicht für mich. Deswegen war dieses komplizierte Buch, das ich in Wolfsburg gelesen habe, doch genau das Richtige für mich.
Das ist ein interessanter Aspekt all Ihrer Lesungen und Hörspielaufnahmen: Sie zwingen sich quasi selbst, sich mit schwierigen Texten auseinanderzusetzen, die Sie privat im Zweifel nicht lesen würden, und vor allem nicht so intensiv.
Das hört sich vielleicht blöd an, aber ich lerne dadurch ungeheuer viel.
Am Ende dieser anstrengenden Woche, über die wir sprechen, kommt der große Abend im Friedrichstadtpalast in Berlin, der Deutsche Filmpreis 2012 .
Ja, ich muss als Erste auftreten und bin noch nie mit einem solchen Applaus empfangen worden wie diesmal. Diese 20 Meter, die ich auf der Bühne bis nach vorne gegangen bin, unter diesem Applaus, haben mich durch den ganzen Abend getragen. Ich habe meine Lesebrille aufgesetzt und die Rede wie üblich vom weißen Blatt Papier abgelesen. Bei den Proben sagte die Regie diesmal, bitte nicht so große weiße Blätter, wir müssen darauf achten, dass im Hintergrund immer das Filmpreis-Logo zu sehen ist. Sage ich: »Das ist vollkommen egal, die Rede wird doch ohnehin nicht im Fernsehen gezeigt. Warum wird sie überhaupt aufgezeichnet? Für die Nachwelt, stimmt’s? Ihr sammelt schon.«
Wie bitte?
Das hat mir mal jemand erzählt, ist ein paar Jahre her: »Sie, Frau Berben, gehören zu den Personen, über die gesammelt wird.« – »Oh«, habe ich gesagt, »das Ärgerliche ist, dass ich es nicht mehr sehen und hören kann.« Bei relativ prominenten Menschen in einem bestimmten Alter fangen die Sender an, für ihr Archiv aufzuzeichnen, für den Nachruf. Aber ich sage euch: Es ist noch lange nicht so weit!
Würden Sie die Nachrufe auf Iris Berben gerne sehen oder lesen?
Wenn ich jetzt mit ja antworte, wird es heißen, wie eitel sie ist. Aber es wäre doch spannend zu erfahren, in welche Richtung es bei diesen Bilanzen so geht.
Sie lachen.
Man kann das auch nur lachend sagen. Der Abend hat mir gut getan. Ich glaube, dass auch mancher Skeptiker
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