Ein Jahr – ein Leben
Sie noch letztes Jahr selbst waren …
… während des Spiels plötzlich auf den Rängen der deutschen Fans immer wieder der Schlachtruf »Sieg, Sieg« oder die Nationalhymne gesungen wird. Ich meine nicht vor dem Spiel, wenn die Hymne eher wie eine Ehrerbietung wirkt, in einer staatsmännischen Haltung. Nein, mitten im Spiel, wenn sie im Stadion plötzlich gegrölt wird. Ich befrage mich durchaus selbst in solchen Momenten: Wann werde ich dazu in der Lage sein, das ohne Ressentiments zu registrieren? Oder ist es eine Generationsfrage?
Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Es piekst bei mir noch richtig. Und ich will es auch nicht relativieren. Ich will es nicht erledigt haben. Bei meinen Lesungen wird mir ständig vorgehalten, das Thema sei doch nun wirklich durch. Dabei wird jede Generation das Thema für sich neu entdecken und sich ihm stellen müssen.
Diese Szenen, die Sie beschreiben, am Gendarmenmarkt vorhin, jetzt hier im Café Einstein in der Nähe des Brandenburger Tors – das sind auch typische Berliner Szenen.
Ja, hier mischt sich alles auf eine unvergleichlich intensive Weise. Diese Stadt kennt keine fertigen Strukturen, die Stadt kommt nicht zur Ruhe. Ich ärgere mich immer wieder über sie, wenn etwas nicht klappt, und es klappt ja vieles nicht, aber im nächsten Moment freue ich mich über das Privileg, in einer Stadt zu leben, die mich in jedem Moment überraschen kann. Das Rotzige nimmt mir oft die Lust an der Stadt, aber an einem sonnigen Tag wie heute denke ich: So ist das Leben.
Können Sie sich vorstellen, noch einmal woanders hinzuziehen?
Innerhalb Deutschlands nicht mehr, ich habe meinen Platz hier gefunden. Ich mag das Unfertige, auch weil es mich an mich erinnert. Ich mag diesen Zustand, immer in Bewegung zu bleiben. Berlin kommt zu keinem Abschluss, und das möchte ich auch für mein Leben sehen.
Wie Tucholsky einmal geschrieben hat: »Berlin wird«.
Wie weitsichtig, das hat sich nicht geändert. Übrigens, da wir gerade über Fußball geredet haben: Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich so viel Fußball schaue. Ich habe mir fast alle Spiele angeschaut, und zwar ganz bewusst. Ich weiß gar nicht, warum, aber ich war gefesselt. Ich bin so weit gegangen, dass ich sogar portugiesisch gekocht habe, wenn die Portugiesen gespielt haben. Ich wollte ihnen Energien schicken! Gestern habe ich ein Frango na Púcara gekocht. Púcara ist ein Topf, ähnlich wie unser Römertopf – also Huhn, Tomaten, Paprika, Zwiebeln, roher Schinken, Senf, Butter, Gemüse, Portwein, Weinbrand, Weißwein und viel Knoblauch.
Man riecht nichts.
Das ist das Geheimnis: Man darf die Knoblauchzehen nicht schälen. Man legt sie ungeschält in den Topf oder nimmt sie später heraus, drückt sie mit der Gabel vorsichtig aus und streicht sie auf in Olivenöl gebratenes dunkles Brot.
Das Vanille-Eis wird serviert, dazu in einem Kännchen die heiß gemachte Schokolade.
zum Kellner: Danke vielmals! Genau so habe ich mir das vorgestellt. Die Schokolade extra, damit ich sie reinlöffeln kann.
Der Kellner lacht, verlässt den Raum.
Fußball ist mir nicht neu, mit Günter Netzer bin ich seit vielen Jahren befreundet. Er hat damals bei uns zu Hause in München viele Nächte verbracht, wenn keiner wissen sollte, wo er ist. Ich kenne Paul Breitner und Franz Beckenbauer. Ich werde nie vergessen, wie ich ihm mal im Flugzeug begegnet bin, damals war Oliver noch ein kleiner Junge. Franz hatte bei irgendeinem Empfang einen Berliner Bären geschenkt bekommen, und da sagt er auf Bayerisch: »Du hast do’ a Bua«, und schenkt ihn mir.
Sie schauen also wirklich Fußball.
Ich wundere mich selbst darüber. Ich glaube, ich bin über die politische Berichterstattung im Vorfeld der Europameisterschaft neugierig geworden, über die Debatte, ob man das Turnier wegen der Lage in der Ukraine, der Inhaftierung von Julia Timoschenko, boykottieren soll. Das war der Türöffner für mich. Ich habe mich mit dem Für und Wider beschäftigt, und am Ende fand ich es richtig, zu spielen und sich politisch zu äußern. So wurde die Aufmerksamkeit auf die Zustände in der Ukraine gelenkt. Und dann gab es den Besuch in Auschwitz, von Jogi Löw und einigen Spielern, der wichtig war. Es wurde, was genauso wichtig war wie der Besuch selbst, keine Vermarktungsmaschinerie dazu angeworfen, das zeugt von Sensibilität, die mir gefallen hat. Die Fußballspieler sind ohnehin viel politischer als früher.
Ein Satz, wie ihn Berti Vogts 1978 in
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