Ein Jahr – ein Leben
wissen, sehr erfolgreich weitergegangen ist. In welcher Situation sind Sie jetzt?
Es gibt diesmal keine konkreten Themen, nichts, was dringend besprochen werden muss, nein, es geht eher um die Frage, wo wir beide gerade stehen, was hinter uns liegt, was vor uns liegt. Ich will mich einfach in die Situation fallen lassen. Mein Sohn ist mir sehr ähnlich, er wird mich sicher das eine oder andere Mal überraschen. Wissen Sie, was mich am meisten gefreut hat, als er mir diese Reise geschenkt hat? Dass er Zeit mit mir verbringen möchte. Dass wir so weit wegfahren, hilft uns übrigens auch: Durch den Zeitunterschied werden wir beide, besonders Oliver, telefonisch nicht erreichbar sein. Er wird morgens und abends E-Mails lesen und beantworten, aber ansonsten betreten wir eine andere Welt, in der das Handy nicht klingeln wird. Wir werden nicht andauernd wieder mit der Arbeit beschäftigt sein, hören nicht von diesem oder jenem Filmprojekt, von Zahlen, die gut oder schlecht sind. Wir werden die Tage für uns haben. Bei so einem tollen Geschenk zum 60 ., habe ich mir überlegt, müsste ich eigentlich nächstes Jahr gleich 70 werden.
»Ich habe sogar Portugiesisch gekocht,
wenn die Portugiesen gespielt haben.«
Sommer, Juni, Berlin liegt in der Sonne, und Iris Berben trifft nachmittags strahlend im Café Einstein ein. Sie trägt ein graues Tanktop, Jeans, flache Schuhe, die sie, kaum, dass sie Platz genommen hat, abstreift. Roter Nagellack auf den Zehennägeln. Die Haare offen. Sie nimmt die Sonnenbrille ab. Endlich Sommer.
Sie haben richtig gute Laune, oder?
Sieht man das? Vielleicht liegt es daran, dass ich wieder so wenig geschlafen habe? Normalerweise kann das anstrengend sein, wenn man zu wenig Schlaf bekommt, aber im Sommer, wenn die Tage früher beginnen, wenn man mit dem Sonnenaufgang aufsteht, ist es herrlich.
Der Kellner klopft, wie immer, höflich an der Tür. »Haben Sie Wünsche?« – »Ja«, antwortet Iris Berben, »ein Vanilleeis mit heißer Schokolade? Also richtige Schokolade, heißgemacht, zum Eis?« Der Kellner nickt, er sei sich nicht sicher, ob man das zubereiten könne, aber er frage in der Küche nach, und verschwindet.
Ich bin gerade über den Gendarmenmarkt gelaufen und habe einen Mann mit einem Megaphon in der Hand gesehen, der aus einem Bus ausstieg, hinter ihm eine große Reisegruppe aus Israel, viele alte Menschen unter ihnen. Sofort schoss mir durch den Kopf: Sie werden gerade durch Berlin geführt, warum sind sie wohl hierhergekommen? Parallel dazu wird für die Klassik-Open-Air-Konzerte am Gendarmenmarkt gerade die Bühne aufgebaut. Dann bin ich an der U-Bahn-Baustelle vorbeigelaufen, die uns für die nächsten Jahre begleiten wird. Und auf einer Bank saß ein altes Ehepaar nebeneinander, und beide lächelten mich an. An ihnen ging eine junge Frau mit Kopftuch vorbei. Mit diesen Eindrücken komme ich zu Ihnen. Es ist eine gute Zeit gerade, heute in diesem Moment.
Es ist Sommer.
Ja. Es hat etwas mit der Wärme zu tun. Du siehst Menschen, die gerade ihre Vesper auspacken und etwas essen. Du siehst die israelische Reisegruppe, die aus dem Bus steigt, übrigens fromme Juden, die Männer hatten alle ihre Kippa auf dem Kopf. Ein irritierendes Bild, dachte ich. Deutschland, Berlin, Gendarmenmarkt, Sommer 2012 . Was erzählt der israelische Reiseleiter jetzt seinen Touristen? Ich kenne viele junge Israelis, die in Berlin leben und die es lieben, hier zu sein, aber als ich das Bild vorhin gesehen habe mit den alten Menschen, war ich sofort wieder mit dem Gedanken in einer anderen Zeit.
Was ging Ihnen durch den Kopf?
Sie sind dahin gereist, wo über das Schicksal vielleicht von Familienangehörigen, vielleicht von Freunden, entschieden wurde, hier in Berlin-Mitte, wo Geschichte und Gegenwart so dicht aufeinanderprallen.
Kaum hat Iris Berben den Satz zu Ende gesprochen, zieht am Fenster eine Gruppe von deutschen Fußballfans vorbei, junge Frauen und Männer, laut singend, grölend, in weißen Trikots der Nationalmannschaft mit Bier- und Colaflaschen sowie Deutschlandfahnen in der Hand. Es ist Fußball-Europameisterschaft, Halbfinale, heute Abend wird Deutschland gegen Italien spielen – und verlieren.
So, und natürlich sind die Bilder, die wir jetzt gerade durch das Fenster sehen, auch Bilder, die die israelische Reisegruppe sehen wird. Ich merke, was sie mit mir machen. Es geht mir auch durch Mark und Bein, wenn ich im Fernsehen mitbekomme, dass in einem Stadion in der Ukraine …
… wo
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