Ein Jahr in Andalusien
aufgefallen? Doch schon fährt sie
fort, jetzt mit dramatischem Tonfall: „Der Dalai Lama entdeckte in Osel die Reinkarnation eines tibetanischen Lamas, der ein Jahr vor seiner Geburt in
den USA gestorben war. Der Junge fand und findet es aber überhaupt nicht reizvoll, die Wiedergeburt eines Lamas zu sein. Seine Geschichte hat Bernardo
Bertolucci übrigens zu dem Film Little Buddha inspiriert …“
Es fällt mir schwer, ihren Worten zu folgen, auch wenn die Geschichte spannend klingt. Die Straße nimmt meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Oben
angekommen lasse ich mich schweißgebadet auf einer kleinen Bank nieder, die neben einer riesigen überdachten Gebetsrolle steht. Der Ausblick ist
atemberaubend. Im Osten liegen die weißen Dörfer Pampaneira, Bubión und Capileira, vor uns liegt das Guadalfeo-Tal, hinter uns die Gipfel der
Dreitausender. Die Schotterpiste hat uns von sechs- auf sechzehnhundertHöhenmeter katapultiert. Während ich noch auf der Bank sitze
und die Fahrt verdaue und Esther und Pedro neben mir den Ausblick genießen, nähert sich eine etwa fünfzigjährige Spanierin. Sie trägt eine weinrote
Tunika, ihr Haar ist kurz geschoren, auf ihren Lippen liegt ein seliges Lächeln. „Hola, ich bin Paloma, die Leiterin des Zentrums.“ Esther ist immer
noch ganz bei dem rebellischen Lama. Ohne Vorwarnung fragt sie, ob Paloma uns etwas über den Lama Osel erzählen könne, „über den rebellischen Mönch aus
der Alpujarra“, sagt Esther, für den Nachsatz hat sie ihre Stimme ein paar Tonlagen tiefer geschraubt. Einen kurzen Moment lang verliert Paloma ihre
buddhistische Ruhe. „Oh“, sagt sie nur, die Röte schießt ihr ins Gesicht. Der junge spanische Lama scheint die Gemüter wirklich zu erhitzen, seine
Geschichte interessiert mich immer mehr.
„Bueno – also … Osel will sich weiterbilden und hat deshalb seine Studien in Tibet unterbrochen“, sagt sie steif. „Wie war das damals, als er
entdeckt wurde?“, frage ich sie. „Das habe ich leider nicht mitbekommen, ich weiß nur, was seine Mutter Maria mir erzählt hat.“ Und Paloma berichtet
uns, dass der Dalai Lama bei einem Besuch in ihm die mögliche Reinkarnation des tibetanischen Lama Yeshe, der wenige Monate vor Osels Geburt in
Kalifornien gestorben war, vermutet hatte. Osel hatte gerade zu krabbeln begonnen. Osels Eltern brachten den Kleinen sofort nach Dharamsala, wo darüber
entschieden werden sollte, ob es sich tatsächlich um die Wiedergeburt handelte. „In Indien war die Stimmung gegenüber dem spanischen Lama-Anwärter
zuerst ziemlich feindlich“, erzählt Paloma. „Die meisten tibetischen Mönche wollten in keinem Fall, dass ein Junge aus dem Westen die wichtige Aufgabe
übernahm, den buddhistischen Glauben im Abendland zu verbreiten. Denn das war die Aufgabe von Lama Yeshe gewesen, und seine Reinkarnation musste sie
natürlich fortsetzen.“ Doch trotz allerBedenken überzeugte Baby Osel den Dalai Lama. Dabei war er einer von elf Kandidaten für die
Nachfolge von Yeshe; doch als Einziger erkannte der Kleine dessen persönliche Gegenstände wie Gebetskranz und Glöckchen. Damit war für den Jungen das
friedliche Leben in der abgeschiedenen Berglandschaft der Alpujarra vorbei. Er wurde in einer traditionellen Zeremonie zum Lama geweiht und bekam einen
Tutor mit nach Hause. Schon mit sechs Jahren musste er für seine Studien in ein Kloster nach Tibet ziehen.
„Dort begannen die Probleme“, sagt Paloma und seufzt. „Er passte sich nicht an, wollte nach Hause. Schon mit acht bat er seine Mutter, ihn in die
Alpujarra zurückzuholen.“ Um das Heimweh zu verringern, wählten die Mönche eine radikale Methode: Sie ließen ihn nur noch alle vier, fünf Jahre nach
Spanien fahren. Seine Mutter war einverstanden. Kaum hatte Osel seinen 18. Geburtstag gefeiert, verließ er Tibet. Heute studiert er Regie in Kalifornien
und sagt in Interviews, er sei weder Lama noch Buddhist. – Die Geschichte hinter dem Zentrum O sel Ling erzählt Paloma offensichtlich nur ungern. Sie
passt so gar nicht in das Bild der friedlichen buddhistischen Welt.
„Wollt ihr die Stupa sehen?“, fragt sie, das Thema Lama Osel will sie offensichtlich beenden. „Claro que sí“, sagen wir. Paloma bringt uns zu einem
kleinen weißen Tempel mit goldener Spitze, um den herum bunte tibetische Gebetsfahnen im Wind flattern. Mit ein bisschen Fantasie fühlt man sich auf die
tibetische Hochebene versetzt. Dann führt uns Paloma zu den Gemeinschaftsräumen, wo
Weitere Kostenlose Bücher