Ein Jahr in Andalusien
der Berge, der Täler, der Weinreben, der Arbeit, der Weisheit, der Genüsse, der Vergebung und so weiter. Viele Spanier entwickeln ein sehr
inniges Verhältnis zu ihrer Jungfrau. Sie waschen sie, bringen ihr Blumen, manchmal sogar etwas zu essen, die Frauen nähen ihr neue Kleider, die Männer
tragen sie an ihrem Feiertag und während der Semana Santa, der Karwoche, auf einem Thron spazieren. Eine alte Dame, ganz in Schwarz, nähert sich mit
gesenktem Haupt, in der Hand hält sie frische Blumen. Sie bekreuzigt sich, sieht die Virgen lange an, murmelt etwas vor sich hin. Dann sortiert sie die
Blumen aus, deren Blätter zu welken beginnen, und legt ihre frischen dazu.
An der Strandpromenade von Rincón de la Victoriamüssen wir nicht nur Spaziergängern und spielenden Kindern ausweichen, sondern auch
noch den Tischen der Chiringuitos, der Strandbars, deren Plastikgarnituren die halbe Promenade blockieren. Nach fünfzig Metern im Schneckentempo geben
wir auf und steigen ab. Wir schieben die Räder nebeneinander her.
„Weißt du, mit der Kirche kann ich nicht viel anfangen“, beginnt Jaime unvermittelt. Es klingt fast wie eine Beichte. „Ich habe nicht mal die
Kommunion mitgemacht. Kurz zuvor hatten wir im Geschichtsunterricht die Grausamkeiten durchgenommen, die die Kirche bei der Inquisition verübt
hatte. Außerdem mussten wir uns damals auch noch vor dem Pfarrer hinknien und zur Begrüßung seine Hand küssen. Ich empfand nur Abscheu und weigerte
mich, die Kirche zu betreten. Dafür musste ich zwar einige Prügel meiner Mutter einstecken, aber selbst die konnten mich nicht erweichen.“
Kaum einen Spanier gibt es, der nicht getauft ist. Während der Franco-Diktatur, die das Land bis 1975 fest im Griff hatte, galt der Katholizismus als
Staatsreligion. So gab es etwa nach dem Spanischen Bürgerkrieg Zwangstaufen, den Taufschein brauchte man für den Gang zu den Ämtern, das Bett musste man
lebenslänglich mit demselben Partner teilen. Seit dem Tod Francos ändert sich das zwar allmählich, vor allem aber das ländlich geprägte Andalusien ist
den alten Denkschablonen immer noch verhaftet. „Auch wenn meine Mutter fast nie in die Kirche ging und meine Großeltern zum republikanischen Lager
gehörten, war es für sie unvorstellbar, dass ihr Sohn nicht zur Erstkommunion ging. Dabei war Franco damals schon ein paar Jahre tot.“
Am Ende der Strandpromenade von El Rincón de la Victoria bricht unsere Radtour jäh ab, von hier an kann man nur noch auf der Schnellstraße weiter
entlang der Küste fahren. Es ist zwei Uhr nachmittags, in Spanien die idealeZeit fürs Mittagessen. Also lassen wir uns an einem der
Plastiktische nieder, über die wir kurz zuvor noch geschimpft haben. „Hier gibt’s Meeresfrüchte und Fisch. Auf was hast du Lust?“, fragt mich
Jaime. Ich überlasse es ihm, die Leckerbissen auf der Karte auszusuchen. Wenig später bringt uns der Kellner zwei Glas Tinto de Verano, eine Mischung
aus Rotwein und Limo, und einen Tomatensalat, auf dem sich mindestens zwei Knollen klein gehackten Knoblauchs verteilen. Jaime macht mich auf ein
Fischerboot aufmerksam, das im Sand liegt und an dem sich ein Mann zu schaffen macht. „Da braten gerade unsere Sardinen“, sagt er. Ich stehe auf, um
mir die offene Küche näher anzusehen. Der Kahn ist mit Sand aufgefüllt, darauf sind glühende Holzscheite geschichtet, dazwischen entdecke ich Spieße,
auf denen gesalzene Fischchen schwitzen. „Eigentlich sagt man, dass die Sardinen nur in den Monaten ohne ‚R‘ schmecken … ich hoffe, wir haben Glück und
sie sind heute auch gut.“ Auf dem Tisch stehen schon ein Teller mit gebratenen Garnelen und einer mit frittierten Sardellen. „Das sind Boquerones“,
erklärt Jaime und zeigt auf die frittierten Fischchen. „Weil wir die in Málaga so gern essen, haben wir den Spitznamen Boquerones weg. Wir haben es mit
der Schlemmerei aber leider so übertrieben, dass es heute fast keine Sardellen mehr an der Costa del Sol gibt.“ Als die Sardinen vor uns stehen, bin
ich etwas hilflos. Fünf kleine Fische liegen mit Haut, Gräten und Innereien auf meinem Teller. Ich schiele zu Jaime hinüber, um zu sehen, wie man sie am
geschicktesten anpackt. In wenigen Sekunden reißt er Schwanz und Kopf ab, öffnet die Sardine halb, um Gräten und Darm zu entfernen, und vertilgt dann
das weiße Fleisch.
Nach unserem üppigen Menü lassen wir uns gleich gegenüber in den Sand fallen und schauen satt und zufrieden zu, wie die Wellen
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