Ein Jahr in Andalusien
gekocht, gegessen und meditiert wird. „Wir sind normalerweise zehn,
ich wohne ständig hier und neun Freiwillige oder Meditationsgäste vorübergehend.“
„Mit Lama Osel müsste man mal sprechen“, sage ich, als wir im Schneckentempo auf der halsbrecherischen Straße ins Tal zurückfahren. Ich versuche nur
die nächsten fünfzigMeter vor mir im Blick zu behalten, um nicht an das mögliche Ausmaß eines Fahrfehlers erinnert zu werden. „Ich
dachte immer, der Buddhismus sei eine der intelligentesten Religionen, die es gibt“, bemerkt Pedro von der Hinterbank. „Aber die Geschichte von dem
Jungen macht sie doch auch unglaubwürdig, oder?“ „Ich glaube, die warten immer noch, dass Osel wieder zur Besinnung kommt“, sagt Esther.
Wir kaufen Brot, eine Fünfliterflasche Olivenöl und Ziegenkäse in Orgiva als Gastgeschenk für Nicaren und Henry. Als wir wieder bei den beiden
ankommen, sitzen sie auf dem Teppich und knüpfen bunte Armbänder. „Lasst uns zusammen zu Abend essen“, sagt sie und breitet unsere Gastgeschenke gleich
auf dem Teppich aus. Esther schüttet etwas Olivenöl in einen tiefen Teller, ich schneide Bauernbrot und Käse auf. Nach dem gemeinsamen Abendessen treten
wir den Rückweg nach Granada an. Chambao singt „No vale la pena andar por andar, que es mejor caminá pa ir creciendo – Laufen um des Laufens willen
lohnt sich nicht, es ist besser, wenn man geht, um zu wachsen.“ Jeder hängt seinen Gedanken nach, da unterbricht Esther plötzlich die Stille. „Wie lang
bleibst du eigentlich noch bei uns in Granada?“, will sie wissen. „Das hängt von vielen Sachen ab“, antworte ich. Sie fragt nicht nach und legt
Camaróns „Como el Agua – Wie das Wasser“ auf.
November
Der Fluch der Sonnenküste
Es weht eine leichte Brise, die Luft ist klar, schmeckt leicht salzig, die Sonnenstrahlen wärmen schnell, auch jetzt noch, Anfang November. Der Himmel
ist strahlend blau, am Horizont verschwimmt er mit dem Meer, das dunkelblau darunterliegt. Schaumkronen tanzen auf den Wellen. Am Strand rösten sich ein
paar Sonnenanbeter, Kinder lassen Drachen steigen. Mit dem Rad bin ich an der Strandpromenade von Málaga unterwegs, ein paar Meter vor mir fährt
Jaime. Ich hatte ihn gefragt, ob ich ihn an diesem Wochenende besuchen könnte, am Sonntagabend muss ich zum Flughafen in Málaga. Franziska, die
Regisseurin des Dokumentarfilms, kommt, um die Protagonistenfamilie zu casten. Jaime war sofort von der Idee begeistert. Am Samstag klopfte ich um zehn
Uhr morgens an seiner Haustür in der Altstadt von Málaga, da pumpte er gerade die Reifen seines Rads auf, neben ihm stand ein zweites. „Wir machen einen
Radausflug“, sagte er mit einem breiten Lächeln.
Jetzt fahren wir am Meer entlang, weichen immer wieder Fußgängern und spielenden Kindern aus und strampeln wie wild gegen den Wind. Erst als wir die
letzten niedrigen Häuser des früheren Fischerdorfs El Palo, heute der östlichste Stadtteil von Málaga, hinter uns lassen, wird es ruhiger an der
Promenade. Selbst der Gegenwind scheint uns einen Waffenstillstand zu gönnen. Anstelle von Sandstränden säumen nun Felsen die Küstenlinie. „Früher war
fast die ganze Küste von Málaga steinig“, erzählt Jaime. „Erst seit einem Vierteljahrhundert gibt es Strände in der Stadt. Sie sindkünstlich mit Sand aus dem Meer und den Flüssen aufgeschüttet. Alles für die Guiris“, sagt er mit einem Augenzwinkern. Guiris nennen die Spanier die
bleichen Ausländer aus dem Norden, die ihr Land vor allem der Sonne wegen lieben.
Im nächsten Ort, Rincón de la Victoria, verteilen sich bunt bemalte Fischerboote am Strand, die ihre Besitzer jeden Abend, außer sonntags, ins Meer
ziehen. Jaime biegt plötzlich von der Strandpromenade ab in Richtung Meer. Vor einer kleinen Figur, die sich in einer in den Stein gehauenen Nische vor
der stetig blasenden Meeresbrise schützt, bleibt er stehen. Es ist eine Marienstatue, ausgestattet mit goldenem Mantel und großem Heiligenschein. Davor
sind unzählige Blumen ausgelegt, keine davon ist verdorrt. „Es ist die Virgen de la Victoria, die Schutzheilige von Málaga und von Rincón de la Victoria
“, bemerkt Jaime. „Ich dachte, das könnte dich interessieren.“ In Spanien und ganz besonders in Andalusien ist der Marienkult weit verbreitet. Mehr
als hundert verschiedene Varianten der Jungfrau werden verehrt, und es scheint fast so, als fände sich für jede Lebenslage eine passende Maria. Es gibt
die Jungfrau
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