Ein Jahr in Lissabon
irgendwann der Groschen.“ – „Wobei ich die Erfahrung gemacht hab, dass sie sich unter Capuccino was vorstellen können, aber das gibt’s natürlich auch schon ein paar Jahre länger.“ – „Ja, daran wird’s wohl liegen. Wahrscheinlich wird der Latte macchiato auch irgendwann mal hier ankommen, aber halt erst in ein paar Jahren. Dauert einfach alles ’n bisschen länger bei den Portugiesen.“
Die Palette der hämischen Kommentare ist bei solch einer Vorlage natürlich verlockend groß: Man könnte die beiden Herren nun in Verlegenheit bringen, indem man sie auf Deutsch anspräche und sich erkundigte, ob sie sich das, was sie gerade gesagt haben, bei Loriot abgeschrieben haben. Man könnte theatralisch werden und aus dem Stegreif eine Szene hinlegen: ihnen einen Galão auf den Tisch knallen, sie fragen, was das wohl ist, und ihnen empfehlen, das nächste Mal doch einfach wieder nach Italien zu fahren. Man könnte es aber auch gar nicht so wichtig finden, was die beiden Herren sagen, sich in Dezenz hüllen, Inês verschwörerisch zuzwinkern, noch einen Schluck von dem glücklich machenden Galão nehmen – und sich dabei irgendwie portugiesisch fühlen. Und genau so mache ich es jetzt auch.
Möglicherweise, weil ich es genau so gemacht habe – weil ich mir den schnippischen Kommentar verkniffen und mich stattdessen in Zurückhaltung geübt habe –, erzählt mir Inês nun, dass ihr Freund und sie sich gestern getrennt haben. O mein Gott! Stunden haben wir zusammen verbracht, ohne dass sie sich auch nur die geringste Spur hat anmerken lassen, ohne dass sie auch nur einen Ton gesagt hat! Jetzt kämpft sie mit den Tränen, und ihre Stimme wird ganzdünn, als sie mir langsam, Wort für Wort, in perfekt gesetztem, mit französisch-portugiesischem Akzent versehenen Deutsch erklärt: „Er hat sich eine Woche lang nicht gemeldet und gestern sagte er: ‚Ich wollte sehen, ob ich dich vermisse.‘ ‚Und‘, habe ich gefragt, ‚hast du mich vermisst?‘ ‚Nein‘, hat er geantwortet. Da habe ich ihm gesagt, dass es besser ist, wenn er geht.“
Da sitzt sie, meine Inês, so traurig und zerbrechlich, dass es mir fast das Herz zerreißt. Und was mache ich jetzt? Kann ich eine Portugiesin, die ich erst seit Kurzem kenne, einfach so in den Arm nehmen? Oder muss ich vorher „com liçenca“ sagen? Verdammt noch mal, wir sind doch hier nicht in Japan! Ich überwinde meine Scheu, drücke Inês an mich und murmle den hilflosesten aller hilflosen Sätze, weil er eben manchmal doch ein kleines bisschen trösten kann: „Vai ficar tudo bem.“ Alles wird gut.
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Gleich beim nächsten Schwimmbadbesuch, nachdem ich unter Aufsicht von Nadador Salvador und neben den wie immer beeindruckend grazilen Sereias de Lisboa meine Bahnen gezogen habe, probiere ich meinen neuen, auf dem Feira da Ladra erworbenen Fön aus. Er ist so laut wie ein Düsenjet und so effektvoll wie der Atem eines verendenden Rehs. „Está partido“, stellen meine Wassernixen in der Umkleidekabine fest, während der Fön im Todeskampf noch ein paar Sekunden erschöpft vor sich hin röchelt. „Der ist kaputt.“ – „Da haben Sie wohl recht“, seufze ich nicht minder erschöpft als der Fön. Kein Wunder, dass der Verkäufer „trabalha“ und nicht „funciona“ gesagt hat – zwar funktioniert er nicht, der Fön, aber ja, in der Tat, er arbeitet mit aller Kraft …
Also laufe ich weiterhin mit nassen Haaren durch Lissabon. Was aber nicht schlimm ist, denn sie trocknen hier schnell. Ich brauche mich nur ein paar Minuten in die Sonne zu setzen, zum Beispiel hier, auf diesen hübschen kleinen Platz – und begreifen, dass Lissabon in Wahrheit ein Dorf ist. Oder vielmehr: Lissabon ist viele Dörfer. Denn um ein Dorf zu gründen, braucht es hier nichts als einen Baum. Und um den Baum herum ein bisschen Platz. Wenn man nun noch ein Bänkchen unter den Baum stellt, ist man auf dem besten Weg, einen Dorfmittelpunkt zu etablieren, an dem man sich sammeln kann. Man kann sich zum Beispiel auf das Bänkchen setzen, die Hände auf den Stock gestützt, die Schiebermütze ins Gesicht gezogen, und ein Nickerchen machen. Man kann sich aber auch mit dem Nachbarn unterhalten, der sich ebenfalls, die Hände auf den Stock gestützt, die Schiebermütze ins Gesicht gezogen, auf der Bank niedergelassen hat. Man kann ein Jäckchen für die Enkeltochter stricken. Oder eine Schachpartie gewinnen. Man kann Ball spielen, Gummihüpfen und Hausaufgaben machen. Oder die
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