Ein Jahr in Lissabon
Sprache innerhalb des Straßensystems: von der Calçada oder auch Calçadinha, dem gepflasterten Gässchen, hin zur Travessa, dem Durchgang, hinein in den Beco, die Sackgasse, wieder zurück und die Escadinha, das Treppchen, hinauf zum Largo, dem kleinen Plätzchen. Mit schwarzer Farbe sind die Straßennamen auf die weiß getünchten Häuserwände gemalt, und manche klingen luftig und vielversprechend wie Nachtische.
In der Alfama stehen die Häuser so dicht beieinander, dass sie sich fast zu berühren scheinen, Wäsche hängt aus den Fenstern heraus und überzieht die Gassen mit eigenwillig komponierten Baldachinen aus Küchenhandtüchern, Unterhemden und Nylonstrümpfen. Man hat den Eindruck, den Bewohnern direkt durchs Wohnzimmer zu laufen. Zum notdürftigen Schutz vor indiskreten Blicken sind die Fenster mit weißen Spitzenvorhängen verhangen, meist mehrere Schichten übereinander, kleine kitschige Stilleben zieren die Fenstersimse: Eine bunt bemalte Heiligenstatue, geschmückt mit grün-rot-goldenem Plastiklametta, bewachtdie eine Wohnung, ein dreidimensionales Jesusbild, flankiert von Kakteen und Porzellanhündchen,die andere. Greisinnen in altmodischen Kittelschürzen, aus denen säbelförmige Beine hervorlugen, öffnen die Türen und leeren Putzeimer in die Abflusskanäle, Katzen springen über die Straße auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen oder weil sie den Kanarienvogel erhaschen wollen, der im Käfig vom Fenster herabhängt und mit den Möwen um die Wette zwitschert.
So verwinkelt ist dieses Viertel, dass es mir selbst ein Rätsel ist, wie ich das Lavadouro público, den alten öffentlichen Waschsaal, gefunden habe, ohne noch einmal auf den Stadtplan schauen zu müssen. Rosa erwartet mich dort bereits mit einem Lächeln, das so herzlich und strahlend ist, als gehe die Sonne auf. Küsschen links, Küsschen rechts. „Tudo bem?“– „Sim, tuuudo!“– „Hast du schmutzige Wäsche mitgebracht?“, frotzelt sie. „Wenn du sie irgendwo sauber kriegst, dann hier!“
Große, steinerne Wasserbecken reihen sich im Lavadouro aneinander, gesäumt von Plastikschüsseln, in denen die Wäsche ihrer Reinigung harrt. Einige Hemden hängen bereits zum Trocknen an der Leine, in einer Nische an der Wand schlummert ein Marienstandbild, denn auch zum Waschen braucht es die Unterstützung der Heiligen. Die Sonne fällt durch das Oberlicht herein und bricht sich im Seifenschaum des Wassers zu kleinen Regenbogen.
Ich fühle mich in eine Zeit zurückversetzt, die ich bisher nur von alten, vergilbten Fotografien oder aus Erzählungen meiner Großmutter kannte, während ich zwei alte Frauen dabei beobachte, wie sie einen großen Teppich in eines der Steinbecken werfen, mit Seifenpulver bestreuen und mit Bürsten bearbeiten. Sorgfältig eingeschäumt und geschrubbt wird er, der Teppich, dann unter Wasser getaucht, bis er keine Luft mehr bekommt, mit kleinen Holzstückchengeschlagen, bis er um Gnade schreit, ein Becken weitergezogen und auch dort untergetaucht, weiter von Becken zu Becken, so lange, bis schließlich keine Seifenspuren mehr das Wasser trüben. Dabei plaudern die Damen. Zeigen ihre Hände, die ein Leben lang aufgeweicht wurden von Wasser, Seife und Arbeit. Und darauf angesprochen, warum sie denn im Zeitalter der Waschmaschinen ihre Blusen noch immer selbst schrubben, lachen sie. „A máquina, a máquina!“, echot ihr Spott. Sie hätten es doch schon immer so gemacht, warum also ändern, warum die kleine Rente für eine teure Lavadeira opfern? Außerdem sei der hier – sie deuten auf den Teppich, den sie nun über die Brüstung wuchten, damit er abtropfen kann – ja sowieso zu groß für die Maschine. „Und im Übrigen …“, fügen sie noch hinzu, während sie sich die Hände an der Kittelschürze trockenreiben, das schmutzige Wasser ab- und frisches einlaufen lassen, um die nächsten Wäschestücke in die Seifenlauge zu werfen, „… im Übrigen können wir mit der Maschine nicht reden!“
„Ich wollte das Lissabon der Erinnerungen entdecken, das Lissabon der Vergangenheit“, erklärt Rosa mir, als ich sie frage, was sie mit „Uma outra Lisboa“, dem „anderen Lissabon“, im Titel ihres Bildbands meint. „Aber nicht in Form der Architektur – dass es hier viele alte Gebäude gibt, ist klar. Nein, mich interessieren die Menschen. Denn die sind es, die den Raum ausmachen, die sind es, die den Ort, den ich fotografiere, entstehen lassen. Ich möchte die Vergangenheit in den Menschen
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