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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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Katzen füttern, die wild in diesem Dorf leben.
    Man kann sich unter den Baum setzen, den Vögeln beim Zwitschern zuhören und darüber nachdenken, wie es möglich ist, dass in einer Stadt, die sich Großstadt nennt, an so vielen Ecken und Enden eine Ruhe und eine Idylle herrscht, die man sonst nur auf dem Land findet. Man kann überlegen, ob es etwas damit zu tun hat, dass die großen Hauptverkehrsadern nie einen Zutritt zu den verwinkelt gewachsenen Vierteln gefunden haben und die Autos in den kleinen, schmalen, kurzen Straßen nicht so schnell fahren können. Man kann darüber sinnieren, wie sehr diese betörend lauschigen Plätzchen dazu beitragen, das Leben in Lissabon so unendlich angenehm und unanstrengend zu machen.Man wird es sich alles nicht so genau erklären können und auch dann, wenn die Haare längst trocken sind, noch ein bisschen sitzen bleiben. Weil man einfach irgendwann dazu übergehen wird, den Frieden, den diese Stadt an so vielen Stellen so großzügig verschenkt, zu genießen. Denn er ist für alle da.

Novembro
    „ D IESE O RANGE HIER SIEHT VON AUSSEN VIELLEICHT ein bisschen seltsam aus, aber was in ihr steckt – Caramba! Ein Saft, aus ihr gepresst, ist so süß – meu Deus! Und das ganz ohne Zucker!“ Eigentlich hatte ich lediglich wissen wollen, was der Unterschied zwischen den beiden Orangensorten ist, die in den Obststeigen nebeneinanderliegen, doch ich habe eine Lawine losgetreten, habe ein Feuerwerk ausgelöst. Der ältere Herr, der den kleinen Lebensmittelladen um die Ecke meiner Wohnung bewirtschaftet, ist nicht mehr zu bremsen. Zu jeder seiner Waren scheint er ein persönliches Verhältnis zu haben, vor allem zu den Früchten. „Wir haben großartige Früchte in Portugal, diese Melone hier ist besonders lecker, die meisten Melonen bauen wir im Ribatejo an, entspricht nicht ganz der Honigmelone, nein, ist ein bisschen anders, aber – Caramba!“ Ich koste nicht nur von der Melone, sondern auch vom Fettnapf, indem ich mich erkundige, ob er vielleicht Spanier sei – so oft und temperamentvoll, wie er „Caramba“ sage. Hysterisches Gelächter quittiert meine Frage. Nein, also wirklich, ich könne doch nicht einfach aus einem Portugiesen einen Spanier machen! Könne doch nicht kurzerhand eine über Jahrhunderte gewachsene, sorgsam kultivierte Antipathie zwischen zwei Völkern über den Haufen werfen! Ob ich denn nicht das Sprichwort kenne: „De Espanha nem bom vento, nem bom casamento. – Aus Spanien kommt weder ein guter Wind noch eine gute Heirat? Mas, caramba! Noch viel lieber sage ich: De Espanha nem bom vinho … Aus Spanien kommt kein guter Wein. Denn hier in Portugal haben wirso viele gute Anbaugebiete, da …“ Und prompt werde ich in die nächsten Geheimnisse eingeweiht.
    „Mercearias“ heißen die kleinen Krämerläden, die es in Lissabon in jeder auch noch so kleinen Straße gibt. Natürlich sind sie teurer als die Supermärkte, nicht immer ist die Ware besser, denn sie liegt länger, die großen Einkäufe werden anderswo gemacht – in die Mercearias geht man eher, um für den spontan selbstgebackenen Sonntagskuchen ein paar Eier und einen Liter Milch zu besorgen oder um für die Tafel Schokolade nicht eigens im Supermarkt anstehen zu müssen. Trotzdem haben auch die Mercearias ihre treue Stammkundschaft: alte Menschen, die zu gebrechlich sind, um weite Wege gehen zu können, und die nicht zuletzt deshalb im Laden um die Ecke einkaufen, weil sie dort anschreiben lassen können, wenn die dürftige Rente mal wieder vor dem Monatsende aufgebraucht ist – und weil sie es genießen, dort eine Gesellschaft und eine Beratung zu finden, für die in den großen, anonymen Geschäften keine Zeit bleibt.
    Auch ich komme nun in den Genuss dieser intensiven Zuwendung. Zwar ist er eher von kleiner Statur, der Herr Verkäufer, der Rücken schon leicht zum Buckel geduckt, doch er birst vor Energie – einer Energie, die sich vor allem in der Mimik und in den Händen zu bündeln scheint. Fast unproportioniert wirken sie im Verhältnis zum schmächtigen Körper, diese großen, schaufelförmigen Pranken, die unentwegt durch den Raum schießen wie Haken schlagende Kaninchen. Innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten erfahre ich – in einem Mischmasch aus Portugiesisch, Französisch und Gesten – nicht nur alles über die Qualität der portugiesischen Lebensmittel, sondern auch eine gesamte Lebensgeschichte. Als Victor stellt er sich mir vor, 67 Jahre ist er alt, seine Frau ist vor

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