Ein Jahr in Lissabon
der Straße, im Bus, im Café –, habe ich oft Gelegenheit, in den Genuss dieser einzigartigen Eröffnungsfloskel zu kommen. Nicht ihren Namen, sondern „Estou“ sagen die Portugiesen, wenn sie den Hörer abnehmen, was wörtlich übersetzt so viel heißt wie: „Ich bin da, ich bin hier.“ Ich muss gestehen, dass mir vor meinem Aufenthalt in Lissabon nicht klar gewesen ist, welch metaphysische Abgründe der alltägliche Akt des Telefonierens in sich birgt. Ich. Bin. Da. Ich. Existiere. Ich telefoniere, also bin ich. Descartes? Heidegger? Sartre? Wer ruft da wohl gerade an? Und wie bewundernswert existenzialistisch sind diejenigen Zeitgenossen, die es wagen, die Begrüßung als Frage zu formulieren, indem sie die Stimme zweifelnd nach oben ziehen: „Estou? Bin ich da?“ Nachdem ich mich anfangs noch schüchtern mit „Olá?“ gemeldet hatte, wenn mein Handy vibrierte, steige ich neuerdings in den Diskurs ein und eröffne das Gespräch ebenfalls mit „Estou“, je nach Tagesform forsch oder fragend, immer aber begierig nach philosophischem Austausch.
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Und jetzt, in eben diesem Moment, klingelt mein Handy, und am anderen Ende signalisiert Inês mir, dass sie existiert.Inês ist mein „Intercambio“, meine Tandempartnerin, sie hilft mir dabei, meine Sammlung an Lieblingswörtern zu erweitern. Einmal pro Woche treffen wir uns, um zu plaudern, mal auf Portugiesisch, mal auf Deutsch, und im Gegensatz zu mir spricht Inês nicht nur hervorragend Portugiesisch, sondern auch ein ziemlich gutes Deutsch. „Isch abe vor langer Zeit ein Jahr lang in Ildeseim als Au-pair-Mädschen gearbeitet“, hatte sie mir bei unserem ersten Treffen erzählt. Wenn Portugiesen Deutsch reden, klingt es fast, als hätten sie einen französischen Akzent: Das ch wird als Gelegenheit genutzt, um – wie sollte es anders sein – geschickt ein sch zu platzieren, und das h ist eine Hürde, die lieber umgangen wird. Der Akzent gefällt mir so gut, dass ich mich ganz uneigennützig frage, wieso eigentlich nicht alle Portugiesen ein so schönes Deutsch sprechen wie Inês.
Inês hat schwarze Haare und ein wunderhübsches Gesicht mit großen, dunklen Augen, ist stets ein wenig blass, von zierlicher Statur und Lehrerin für Mathematik und Chemie. Wenn ich auf Portugiesisch radebreche, korrigiert sie mich fast nie, obwohl ich genau weiß, dass ich unzählige Fehler mache. Dass sie mich nicht korrigiert, hat sowohl mit der portugiesischen Höflichkeit als auch mit der portugiesischen Dezenz zu tun und ist zwar meinen sprachlichen Fortschritten nicht zuträglich, unserer beginnenden Freundschaft aber schon. Als Dankeschön für ihre Dezenz habe ich es im Gegenzug vermieden, sie genauer danach zu fragen, wie ihre Zeit in Hildesheim war. Ich ahne aber, dass sie sich nicht so gerne dort aufgehalten hat, denn eine ihrer ersten Fragen war, ob es das „Schönes-Wochenende-Ticket“ der Deutschen Bahn noch gebe, von dem sie damals so gerne Gebrauch gemacht habe.
Das schöne Wochenende liegt nun auch vor uns, und wir wollen es neben unserem interkulturellen Plausch mitEinkaufen verbringen – in einem der besten „Einkaufszentren“ der Stadt, dem Feira da Ladra, dem Markt der Diebin. Ein Flohmarkt, der sich jeden Dienstag und Samstag über den Campo de Santa Clara nahe dem Pantheon ergießt und der ein schier unerschöpfliches Warenparadies feilbietet: alte Klamotten, alte Bücher, alte Schuhe, eine Hundeleine in Form von Würsten, ein Schaukelpferd und viele Barbiepuppen, CDs und Videospiele, Kacheln und Keramik, Knöpfe und Spitzen, aber auch nagelneue Unterwäsche vom Push-up-BH bis zum Tiger-String – alles, aber auch wirklich alles lässt sich hier ertrödeln. An den Ständen residieren sowohl die professionellen Händler, die hinter einem üppigen Angebot auf Kundschaft warten, als auch die alte Dame von nebenan, die ihren Pelz verkaufen muss, oder die Wohngemeinschaft, die sich auflöst und deshalb den Küchentisch loswerden will. Mit einem riesigen Sortiment alter Schellackplatten lässt sich ebenso ein Markt eröffnen wie mit einem einzigen Paar Schuhe. Der Feira da Ladra ist eine Welt, durch die sich stundenlang mäandern und in der es sich nicht nur einkaufen, sondern auch leben lässt: Kartenspielende Männer, die mit Plastiktüten auf dem Kopf ihre Glatze vor der Sonne schützen, sitzen zwischen den Ständen, die Händler packen mittags ihr Picknick aus und zwitschern den ersten Wein, Kinder spielen Ball.
Dabei handelt es sich
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