Ein Jahr in Lissabon
drei Jahren gestorben, sein Sohnist nach Amerika ausgewandert und hat sich dort verheiratet, weswegen Herr Victor die Estados Unidos hasst. Ursprünglich habe er in einer Bank gearbeitet, jetzt betreibe er diesen Laden, weil er von der Rente allein nicht leben kann und – das allerdings ist meine Vermutung – weil er es ohne die Menschen nicht aushält. „Não é simpatica“, raunzt er mir verschwörerisch zu, als eine Frau an seinem Laden vorbeigeht. „Dazu kann ich nichts sagen“, versuche ich es mit schnöder Diplomatie, „ich kenne sie nicht, eigentlich sah sie ganz nett aus.“ „Não é simpática“, wiederholt Herr Victor noch einmal kopfschüttelnd. Und als er es auch über den nächsten Passanten sagt, steigt der Verdacht in mir hoch, dass alle Menschen, die vorübergehen, ohne einzukaufen oder wenigstens einen Plausch zu halten, durchfallen. Denjenigen hingegen, die seinen Laden besuchen, öffnet Herr Victor sein Herz und nimmt sie in seine Familie auf. „Sie sind zu dünn, Sie müssen mehr essen“, erklärt er mir nun unvermittelt. „Schauen Sie sich meinen Hund an“ – neben der Kasse liegt ein schwarzer Terrier, den ich bereits kenne, weil er sich dafür verantwortlich fühlt, unsere ganze Straße zu bewachen, indem er morgens um sechs Uhr mit dem Kläffen beginnt und bis nachts in Habachtstellung bleibt. „Cão heißt er, einfach nur Hund. Als ich ihn vor zwei Jahren hier in der Nähe gefunden habe, war er kurz davor zu sterben. Ganz klein und dünn, como um frango, wie ein Hühnchen. Ich habe ihm zu essen gegeben und was ist aus ihm geworden? O rei do bairro! Der König des Viertels!“
Nachdem ich meine Einkäufe bezahlt und in meinen Rucksack gepackt habe (wobei es von Herrn Victor nicht minder skeptisch beäugt wurde als von den Kassiererinnen im Supermarkt, dass ich die Plastiktüte abgelehnt habe), schiebt er mir noch eine Packung Kekse über die Theke. „Geschenk des Hauses. Damit Sie mehr essen. Und damitSie einen schönen Aufenthalt haben in Lissabon.“ Ich ahne schon, dass der eigentliche König des Viertels nicht der schwarze Terrier Cão, sondern Herr Victor ist. Und dass soeben eine wunderbare Freundschaft ihren Auftakt genommen hat. Caramba!
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Doch nun muss ich mich sputen, denn ich habe einen Termin, einen Arbeitstermin. Seit Mitte Oktober bin ich Volontärin in einem Zentrum für zeitgenössische Kunst, das in einem alten Palast im Bairro Alto beheimatet ist. Für den Newsletter eben dieses Zentrums werde ich heute ein Porträt schreiben, ein Porträt über die Fotografin Rosa Reis, die als Artist in Residence ein Jahr lang die Ausstellungen und die Arbeit im Palast mit ihrer Kamera begleitet.
Als Künstlerin habe ich Rosa bereits kennengelernt, ich habe ihren Fotoband „Uma outra Lisboa“ gesehen: ein Streifzug durch ein Lissabon, das auf dem Weg ist, zu sterben. Ein Streifzug durch Lebens- und Arbeitswelten von Menschen, die es bald nicht mehr geben wird. Es sind Fotos, die erst vor wenigen Jahren gemacht wurden, die aber dennoch wirken, als seien sie einer längst vergangenen Zeit entnommen. Nicht nur, weil Rosa sich dafür entschieden hat, sie in Schwarz-Weiß zu drucken, sondern auch, weil es in Lissabon eine Form des Alters gibt, die sich in anderen Städten nicht mehr finden lässt. Ein Alter, das so selbstverständlich und unverhohlen daherkommt, dass es schon wieder jung wirkt. Ein Alter, das die Schönheit dieser Stadt entscheidend prägt und sie weise wirken lässt. Rosas Fotografien hatten mich so beeindruckt, dass ich mein Gespräch mit ihr nicht im Büro oder im Café führen wollte, sondern sie fragte, ob wir uns bei einem Spaziergang durch die Stadtunterhalten können. Ja, ob wir vielleicht sogar ein paar der Stationen, die im Fotoband abgebildet sind, gemeinsam aufsuchen können.
Deshalb gehe ich nun, Herrn Victors Orangen und Kekse im Rucksack, durch die Alfama – neben der Mouraria das älteste Viertel Lissabons und zugleich dasjenige, in dem man sich aufs Wunderbarste verlaufen kann, so, als sei man unverhofft in ein Escher’sches Labyrinth geraten. An den buckligen, pockennarbigen Häuserwänden entlang, durch die schmalen Gässchen und Eckchen hindurch, an deren Ende plötzlich ein kleiner Platz auftaucht oder sich unerwartet der Blick auf den Fluss öffnet. Die Treppe hinunter, die eine Abkürzung verspricht, stattdessen aber Verwirrung stiftet und in einer Sackgasse endet. Unzählige Differenzierungen kennt die portugiesische
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