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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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dicken Mauern alles an Frost speichern, was nur möglich ist. Jeder, der hier arbeitet, ist zugleich verantwortlich für das Überleben des Palastes. Ich weiß genau, dass der Zugang zu diesem Gebäude in Deutschland nicht zugelassen wäre. Entweder wäre es geschlossen oder bis in den letzten Winkel hinein restauriert. Und doch ist mir die portugiesische Lösung lieber. Denn der Dialog, der zwischen dem sterbenden Gebäude und der zeitgenössischen Kunst entsteht, ist ein besonderer. Das Alte befruchtet das Neue und umgekehrt. Die Leute, die hier ausstellen – in erster Linie portugiesische und brasilianische, aber auch deutsche, belgische oder niederländische Künstler –, entwerfen ihre Werke für den Palast,lassen sich von seinem Wesen und seiner Geschichte inspirieren.
    Vielleicht, so denke ich nun, als ich meinen Laptop aufklappe und beginne, die Notizen aus dem Gespräch mit Rosa zu einem Artikel zu formulieren, ist dieser Palast eine Metapher für die gesamte Stadt, ist er Lissabon en miniature. Von einer betörenden und unendlich poetischen Schönheit, zugleich zutiefst marode und sich immer wieder erneuernd – all das aber wie in einem stetigen Provisorium. Ein Provisorium, das funktioniert und fasziniert, aber dennoch bisweilen zusammenzubrechen droht.
    ✽✽✽
    Drei Stunden und 11 000 Zeichen später ist der Artikel im Kasten, und ich kann ihn an die Kollegin mailen, die ihn vom Deutschen ins Portugiesische übersetzen wird, kann den Laptop wieder zuklappen, Herrn Victors leergefutterte Kekspackung in den Papierkorb entsorgen und mich auf den Nachhauseweg machen. Sorgsam, weil ich heute als Letzte den Palast verlasse, ziehe ich die große, schwere Holztür mit dem schmiedeeisernen Gitter hinter mir zu – die Tür, an der ich bereits jedes Detail kenne, jeden Riss in der Maserung, jeden Fleck im Lack. Weil ich schon so oft vor ihr gewartet habe. Denn meist, wenn ich morgens punktgenau an meinem Arbeitsplatz eintreffe, stehe ich vor verschlossener Pforte. Nur der Chef hat einen Schlüssel für den Palast – einen schönen, großen, verschnörkelten –, und der Chef nimmt es nicht so genau mit der Zeit. Die Kollegen auch nicht, sie trudeln nach und nach ein, und so bin ich regelmäßig eine Viertelstunde zu früh. Der Einzige, der ebenfalls pünktlich kommt, ist Tiago, Student der Malereiund Praktikant im Palast. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich bin nicht normal“, murmelt er jedes Mal, wenn er wieder einmal zeitgleich mit mir, der Deutschen, eintrifft, und schüttelt den Kopf mit dem schwarzen Haar und der dunklen Hornbrille. „Ich schaff’s einfach nicht, zu spät zu kommen. Selbst wenn ich verschlafe, bin ich rechtzeitig da. Ich glaub, ich hab ein deutsches Gen.“
    Nicht nur im Hinblick auf die Schwerkraft besitzt Lissabon eigene physikalische Gesetzmäßigkeiten, sondern auch im Hinblick auf die Zeit. Großstadt hin oder her, hier pulsiert das Tempo ruhiger als anderswo; aufgeladen mit deutscher Hektik, werde ich an allen Ecken und Enden ausgebremst und dazu gezwungen, mich zu verlangsamen. Die Portugiesen scheinen ein seismografisches Gespür für jede noch so geringe Störung ihres Zeitflusses zu besitzen. Wer es sich erlaubt, zu drängeln, und sei es auch nur atmosphärisch aufgrund einer unzureichend unterdrückten inneren Unruhe, dem schlägt das Gegenteil von Beschleunigung wie ein Bumerang ins Gesicht: Jeder begegnet ihm nun mit stoischer Blockade. In den Momenten, in denen ich es eilig habe, wird Lissabon für mich zur Hölle und das Gegenüber zum Feind.
    Im Postamt etwa, wo alles so ordnungsgemäß organisiert scheint wie in einer deutschen Behörde, muss ich eine Nummer ziehen und sie mit der Digitalanzeige über dem Schalter abgleichen, um zu wissen, wann ich an der Reihe bin. Ob ich allerdings jemals an die Reihe kommen werde, wird erst die Zukunft weisen. Denn obschon ich nur fünf Zahlen von meinem Ziel entfernt bin, kann ich nun eine geschlagene halbe Stunde lang vier Beamte bei der Kultivierung der Langsamkeit beobachten: Mit der Verzücktheit von Philatelisten kleben sie Briefmarken auf und schieben Papiere hin- und her, beschreiten den Weg zum Kopiererbedächtig wie einen Gang durchs Weltall und dann, ehe der nächste Kunde aufgerufen wird, schieben sie die Papiere noch einmal hin- und her, denn möglicherweise hat sich während der Reise durchs Weltall irgendetwas ganz von alleine verrückt. Das grenzt an Boykott, und es sind die Momente, in denen ich in

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