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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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bevor die Kamera zum Einsatz kommt. Rosa verbringt viel Zeit mit den Menschen, ehe sie sie fotografiert. Sie sollen sich an sie gewöhnen, ihre „Modelle“, sie sollen so natürlich wie möglich sein, wenn sie sie auf ihr Objektiv bannt. Die Karten spielenden Männer, die ich aus ihrem Buch kenne, sind so vertieft in den Moment, dass sie die Kamera gar nicht wahrgenommen haben. Dieser Teil ihrer Arbeit fasziniert mich am meisten: wie sie die Nähe zu den Menschen findet, nicht nur mit dem Objektiv, sondern auch im Dialog. Eigentlich hatte ich selbst auch ein bisschen fotografieren wollen, hatte im Schatten von Rosa meine kleine Digitalkamera herausziehen wollen. Doch nun lasse ich es sein, ich will das Vertrauen, das zwischen Rosa und den anderen besteht, nicht stören.
    In der Farmácia, deren Apotheker wir besuchen, wachsen alte Holzregale bis unter die Decke, gefüllt mit kleinen etikettierten Schubladen voller Medikamente. Der Apotheker hat Glück, sein Sohn wird den Laden weiterführen, wenn er in absehbarer Zeit aufhören muss. Den Buchbinder hingegen, den Rosa für ihr Buch fotografiert hat, gibt es nicht mehr. „Der Laden hat geschlossen, hat sich nicht mehr gelohnt“, weiß der Apotheker zu berichten. Nur in Rosas Bildband wird er weiter existieren. Verrückt, denke ich, dass wir beide auf der Suche nach demselben sind: dass nicht nur ich, die Estrangeira, die Fremde, von der einzigartigen Form des Alters in dieser Stadt fasziniert bin. Sondern dass auch diese Frau, für die Lissabon seit sechzig Jahren Alltag bedeutet, mit ihrem Objektiv das Vergangene in der Gegenwarteinfängt. Obwohl wir beide wissen, dass die Zeit in Lissabon natürlich nicht stehen geblieben ist: Wir nutzen die Metro, das schnurlose Internet an allen Orten, den Flughafen, die junge Kneipenszene und vieles mehr, das Lissabon zur Metropole des 21. Jahrhunderts macht.
    Ich muss lachen, als der Apotheker uns zum Abschied eine Probepackung mit Vitamin-E-Lotion schenkt. „Para ficar jovem“, sagt er grinsend, um jung zu bleiben. „Já somos“, entgegnet Rosa lachend, „já somos.“ Das sind wir doch schon!
    ✽✽✽
    Dem Verfall anheimgegeben ist auch der Palast, in dem ich Mitte Oktober im Rahmen meines Kulturstipendiums ein Volontariat aufgenommen habe und in dem ich nun, nachdem ich mich – Küsschen links, Küsschen rechts – von Rosa verabschiedet habe, von meinen Kollegen mit den Worten „Aaah, mais uma princesa – noch eine Prinzessin“ empfangen werde. Wir nennen uns gerne gegenseitig Prince oder Princesa und machen bisweilen Witze darüber, dass wir lieber im Rokokokostüm am Computer sitzen würden. Wenn man sich den Ort, an dem wir miteinander arbeiten, genauer anschaut, erschließt sich der Grund. Einst, im 18. Jahrhundert, war der Palast ein Zentrum der Rekonstruktion – der „Neu-Erbauer“ Lissabons, Marques de Pombal, residierte hier, um nach dem Erdbeben von 1755, das große Teile der Stadt vernichtete, den Wiederaufbau zu dirigieren. Hinter der unscheinbaren Fassade des Gebäudes, das sich schlicht in die Häuserzeile der Rua do Século einfügt, ist der ursprüngliche Prunk noch immer zu sehen: Das Innere birgt riesige Säle mit ornamentalen Wandmalereien, kunstvollem Stuck an den Decken, bunten Kacheln, den sogenannten Azulejos,eine filigran bemalte Holzdecke im Obergeschoss und hinter dem Haus ruht ein paradiesischer, idyllischer Garten mit zwei uralten Ulmen, die ihr üppiges Geäst über eine vertrocknete steinerne Fontäne ausgebreitet haben. Alles aber ist zerbrochen, marode, von Patina überzogen, voller Narben – das Gebäude scheint auf dem Weg zum Skelett. Auf den 250 Jahre alten Holzboden bröckelt der Putz von der Decke, bedeckt das Parkett samt seiner Intarsien mit einer Staubschicht – so, als wolle er sich selbst begraben. Je nach Wetter, je nach Luftfeuchtigkeit arbeiten die Wände, vergrößern sich die Risse, dehnt sich das Holz. Bisweilen scheint es mir, als führe der Palast sein eigenes Leben.
    Die Menschen, die diesen Ort dem Schlaf entrissen und der Stadtverwaltung die Genehmigung abgerungen haben, in dem Gebäude zeitgenössische Kunst ausstellen zu dürfen, haben eine schwierige Patenschaft übernommen. Es gibt kein Geld für eine Restaurierung, und so ist alles notdürftig und improvisiert eingerichtet: die Elektrizität, die bisweilen zusammenbricht, ebenso wie der Internetanschluss, die Toiletten, die alle paar Wochen verstopfen, die unendliche Kälte im Winter, in dem die

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