Ein Jahr in Lissabon
und in ihren Tätigkeiten aufspüren, möchte Situationen bewahren, die es bald nicht mehr geben wird. Früher war Wäscherin ein ganz normaler Beruf. Jetzt kommen zwar noch Frauen zum Waschen hierher, aber nur noch ein paar wenige. Wenn sie sterben, wird nicht nur diese Form der Tätigkeit verschwinden, sondern auchdie Lavadouros werden verfallen, weil sie nicht mehr benutzt werden. Und dadurch wird sich nicht nur das Menschen-, sondern auch das Stadtbild verändern, unaufhörlich.“
Tatsächlich zerbricht Lissabon. Viele Gebäude in der Stadt sind unbewohnbar, ausgehöhlt wie ein kaputter Zahn, nur die einst prunkvolle Fassade steht noch, dahinter gähnt nichts als Leere. Gras wächst aus den Fugen, die Dächer sind perforiert – und um zu verhindern, dass die skelettierten Überreste einstürzen, sind die Fenster zubetoniert und die Mauern mit Eisenstangen abgestützt. „Wir nennen diese Ruinen ‚gaiolas‘, Käfige“, erklärt mir Rosa, „weil man durch sie hindurchschauen kann wie durch die Käfige der Kanarienvögel.“ Nur deshalb darf das Alter hier so selbstverständlich existieren, weil es gar kein Geld gibt, es wegzuschminken. Nur deshalb tragen die Stadt und die Menschen ihre Zahnlücken so offen, weil eine Restauration und eine Behandlung viel zu teuer wären. Der Verfall Lissabons, erklärt mir Rosa, hat eine lange Geschichte, die unter der Diktatur von Salazar begann. „In dieser Zeit wurden die Mieten für eine Wohnung auf ein absolutes Minimum festgelegt, sodass die Besitzer begannen, ihre Häuser zu vernachlässigen, weil ihnen das Geld für die Renovierung fehlte.“ Auch nach dem Ende der Diktatur durften die Raten nur sukzessive angehoben werden – und so warten die Besitzer nun, bis der letzte Mieter gestorben ist, um die Häuser dann abzustoßen, denn der Bauplatz ist wesentlich kostbarer als das Gebäude. Auf diese Weise überaltert Lissabon völlig, vor allem in der Baixa. Die meisten, insbesondere Familien, ziehen lieber in die Vororte, wo die Häuser weniger Charme, aber mehr Komfort haben.
Knapp sechzig Jahre ist es her, dass Rosa in Lissabon geboren wurde, nahe der Rua do São Bento in Pampulja. „Ich bin eine echte Alfazinha, ein Salatköpfchen“, grinstsie – denn so werden die Lisboetas spaßeshalber genannt, wobei es keine wirklich plausible Erklärung dafür gibt, woher der Spitzname eigentlich rührt. „Weißt du, ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich schon als Kind viel Zeit am Fenster verbracht habe“, erzählt sie, während sie gleichzeitig auf ihrer Leica die frisch eingefangenen Aufnahmen vom Lavadouro durchblättert – und immer, wenn ich etwas nicht verstehe, wiederholt sie es noch einmal auf Französisch. „Ich durfte nicht einfach so auf der Straße spielen wie mein Bruder, meine Eltern haben mich und meine Schwester sehr behütet. Also habe ich mir die Straße über die Augen erobert. Wir lebten im Erdgeschoss – und das war mein Glück! Denn ich konnte alles zum Greifen nah sehen. Die Eléctrico, die vorüberfuhr, die Menschen, die vorübergingen. Den Brotmann, der mit einem großen Korb auf dem Kopf durch die Straße ging und ‚Pão quente, pão quente!‘ rief.“ – „Wahrscheinlich warst du schon damals eine Fotografin“, sage ich, „hast schon damals begonnen, Momentaufnahmen zu machen.“ – „Ja, vielleicht hast du recht. Das Sehen war für mich schon als Kind Leben.“ Und dann strahlt sie wieder, diese Frau, die das Licht in sich zu tragen scheint. Tatsächlich, so gesteht sie mir, könne sie ohne Licht nicht sein, weil es für sie sowohl als Fotografin als auch als Mensch existenziell sei. Fotografieren, so Rosa, sei für sie eine Möglichkeit, Licht zu fühlen, Licht zu schreiben. Und Licht könne für sie in vielerlei Gestalt auftreten – zum Beispiel in Form eines Lächelns.
Wir ziehen von der Wäscherei weiter zum Schneider, den Rosa schon oft dabei fotografiert hat, wie er Stoffballen entrollt, Maß nimmt und Taillen an der Kleiderpuppe absteckt. „Tudo bem?“, fragt Rosa auch den Schneider, während ich das Schaufenster des Ladens betrachte, in dem Modezeitschriften aus den Siebzigern in Gesellschaft einesgusseisernen Bügeleisens vergilben. Sie plaudern darüber, wie das Geschäft läuft, und über die Gesundheit, die doch viel wichtiger sei als alles andere. Auch mit dem Schuhmacher, der in einer winzigen Ladenzeile von zwei Quadratmetern noch mit Leisten und echtem Leder arbeitet, wird erst ein Schwätzchen gehalten,
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