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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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fado!“ Nur beim Refrain muss das Publikum nicht mehr schweigen, da darf der Monolog zum Chorwerden. Fast alle Portugiesen, die an jenem Abend in der kleinen Taverne in der Rua da Graça zuhörten, kannten die Texte der traditionellen Fados auswendig und sangen den Refrain mit, für jeden war ein Lieblingslied dabei und beim Mitsummen mischten sich viele Erinnerungen, Emotionen und sogar die ein oder andere Träne in die Musik. Auch der finnische Tourist, der neben mir stand, war kurz vor der Auflösung begriffen, „I love the Wawo“, schluchzte er mir zu und nahm noch einen tiefen Schluck aus seinem Bierglas – „You mean Fado?“ – „Yes, Wawo. It’s so beautiful.“ Und es ergab sofort Sinn für mich, dass die finnische Seele und der Fado irgendwie zusammengehören … Am Ende eines jeden Liedes brandete der Applaus auf, „Muito bom, muito bom!“, rief ein Mann nach vorne, und der Kellner hörte auf, Bier zu zapfen, um ebenfalls kraftvoll die Hände aufeinanderzuschlagen. Beim Fado Vadio sind schon manche späteren Fadistas entdeckt worden.
    Bei dieser ersten Begegnung mit einem Fado jenseits des Schall-Archivs, meiner ersten Begegnung mit einem alltäglichen Fado, hatte ich Blut geleckt. Ich ergriff die nächste Möglichkeit, um auf dem Feira da Ladra vorbeizuschauen, mich mit CDs der unterschiedlichsten Interpreten einzudecken und einmal komplett durch die gesamte Geschichte dieser Gattung „hindurchzufressen“. Ich kaufte mir Aufnahmen von Amália Rodrigues, der Großen, die die Portugiesen auch Jahre nach ihrem Tod noch immer schlicht „Amália“ nennen – so, als gehöre sie zur Familie. Von Alfredo Marceneiro, dem lapidaren, rotzigen „Sprecher“ des Fado. Von Zeca Afonso, der aus den strengen Formen des Fado ausbrach und ihn während der Diktatur als Sprachrohr politischen Protests nutzte. Von Carlos Paredes, dem legendären Gitarristen. Ich sah einen Film über Alain Oulman, dessen Kompositionen nicht minder beeindruckend sindals seine Biografie. Und ich beschäftigte mich mit den Texten des Fado, die von Schmerz, Hingabe und von Sehnsucht handeln, einer nicht näher definierbaren Sehnsucht nach einer verlorenen Liebe, einem anderen Leben, nach der Vergangenheit und der Zukunft, nach Unendlichkeit und vielleicht auch nach einem anderen Selbst. Und: Viele Lieder kreisen um eine besonders große Liebe – um die Liebe zu Lissabon. Lieder, die die Mouraria, die Wiege des Fado, besingen oder die Alfama oder den Tejo. Sogar ganze Alben sind Lissabon gewidmet, wie beispielsweise das von Carlos do Carmo aus den Siebzigerjahren „Um homem na cidade“: ein zwölfliedriges Porträt der Stadt mit ihren Menschen, ihren Vierteln und Plätzen, ihren Märkten und Azulejos, ihren Kastanienverkäufern und Straßenbahnen.
    Und so scheint es mir kein Zufall, sondern folgerichtig zu sein, dass nur wenige Wochen nach Beginn meines intensiven Austauschs mit dieser Gattung der Fado zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt wird. „Orgulhe-se! Seien Sie stolz“, ist seither auf Plakaten zu lesen, die über die ganze Stadt verteilt sind. „A nossa canção – unser Gesang“. Zehn Jahre haben sich die Intellektuellen und Verantwortlichen des Landes bemüht, die Auszeichnung zu erhalten. Und nun, da es endlich gelungen ist, wird im Coliseu, dem riesigen, arenaförmigen Veranstaltungsort nahe dem Rossio, ein Konzert gegeben, bei dem alle großen Sänger des Fado auftreten. Die Karten werden quasi verschenkt, jeder soll an der Feier teilhaben können, und so bin ich mittendrin, als zu Beginn die Nationalhymne gesungen wird und die Moderatoren vor den laufenden Fernsehkameras die ersten Künstler ankündigen. Ganze Generationen des Fado umfasst die Auswahl der Sänger, ganze stilistische Dekaden. Egal, ob es die Fadistas der älteren Garde wie Maria da Fé und Carlos do Carmo oder die der jüngeren wie Mariza,Carminho, António Zambujo sind, alle werden sie jubelnd von ihrem Publikum empfangen und gefeiert. Carminho, die derzeit wohl jüngste Fadista, das Nesthäkchen, singt einen Klassiker des Fado-Repertoires, „O meu amor é marinheiro“, gefolgt von Carlos do Carmo, bei dessen „Um homen na cidade“ alle Zuschauer aufstehen und in den Refrain einstimmen. António Zambujo bleibt lässig, während er sein vom Bossa Nova gespeistes Lied vorträgt, wohingegen Mariza ihren Gesang mit allem verfügbaren Affekt auflädt. Ganz besonders aber rührt mich Argentina Santos, eine der alten Damen des Fado, so

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