Ein Jahr in Lissabon
„Cão“ – und jedes Mal aufs Neue zischt es mir wie Schnupfpulver durch die Nase. „Caramba!“, staunt Victor, der unmittelbar begreift, dass er Zeuge eines historischen Augenblickes ist. Natürlich habe ich auch schon vorher „Olá, Cão“ sagen können, aber das spielte sich in einer anderen Liga ab, das war einfach ein anderes Fahrgefühl.
Ich bin so außer mir, dass ich den Weg zur Arbeit damit verbringe, alle Substantive mit ão aufzusagen, die mein Wortschatz kennt: cão, pão, não, irmão, cartão, estação, informação, exposição, administração, separação, discussão, communicação, autorização, enscenação … Und dann sage ich all diese Substantive, die mir einfallen, auch noch im Plural auf: cães, pães, irmãos, cartões, estações, informações … – diese Form des Diphthongs ist anders, etwas verhaltener, introvertierter, weniger raumgreifend, aber nicht minder berauschend. Bei der Arbeit kann ich mich nicht stoppen, weshalb mein Chef am Nachmittag der Meinung ist, dass es besser sei, mich früher in den Feierabend zu schicken.Zu Hause führe ich erst Bob Marley, meinem heimlichen Mentor in Sachen Diphthong, und dann, beim abendlichen Süppchen, Marta und Jorge vor, was mir widerfahren ist. Bob hält sich bedeckt, gibt ein kurzes, nicht zu deutendes „Machão“ von sich, um sich gähnend wieder einzurollen. Doch Marta quittiert meinen Lernerfolg mit der höchsten Auszeichnung, die sich in Portugal vergeben lässt: „Cinco estrelas (sprich: sinku schträlläsch) – fünf Sterne!“ Und Jorge hat viel Stolz in der Stimme, als er ihr grinsend beipflichtet – mit Worten, die mir wie Honig in die Ohren fließen: „Agora ela é uma portuguesa.“
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Und weil in meiner Nase nun der Diphthong wohnt und ich von Jorge zur Portugiesin ernannt worden bin, fühle ich mich dazu gewappnet, vom Fado zu sprechen. Denn meiner Meinung nach gäbe es den Fado ohne den Diphthong nicht. Wie sollte dieser Gesang, der sich wie ein Schluchzen äußert, dieser Gesang, der sich mit chromatischen Linien auflädt, mit Sekundschritten färbt, mit seufzenden Ornamenten schmückt – wie sollte dieser Gesang ohne die ão-Laute entstanden sein und ohne sie sein spezifisches Klangprofil erhalten haben?
Natürlich hatte ich den Fado bereits vor meiner Ankunft in Lissabon gekannt, auch einige CDs in meiner Sammlung beheimatet. Aber um ehrlich zu sein hatte ich ihn insgeheim für ein längst lexikalisiertes und nur für die Touristen wiederbelebtes Phänomen gehalten. Schon nach kürzester Zeit in Lissabon jedoch wurde ich eines Besseren belehrt. Denn schon nach kürzester Zeit stolperte ich über seine wohl lebendigste Daseinsform.
Es geschah im November, und es geschah per Zufall. Ich war dabei, in den Supermarkt zu rennen, ehe er schließt – ja, damals hatte ich die Lektion „Não corra!“ noch nicht gelernt –, ich war also dabei, in den Supermarkt zu rennen, da sah ich im Vorübereilen, dass in der kleinen Taverne auf der Rua da Graça ein Konzert gegeben wird. Ich blieb stehen und lauschte: Es war Fado, der gesungen wurde. „Kommen Sie doch rein“, lud der Mann an der Tür mich ein. „Hab leider keine Zeit.“ – „Só cinco minutos!“ Recht hat er, wenigstens kurz kann ich zuhören. Aus den fünf Minuten wurden zwei Stunden und drei Glas Bier, und der Supermarkt hatte längst geschlossen, als ich nach Hause ging. Es war wunderbar. Mir war der Fado Vadio über den Weg gestolpert.
Música ao vivo nennen die Portugiesen Live-Musik, und das Leben, das Lebendige, steckt ganz besonders im Fado Vadio, dem Fado, der den Menschen gehört. Denn bei den Veranstaltungen des Fado Vadio, was wörtlich übersetzt „Fado des Landstreichers“ heißt, singen keine professionellen Fadistas, nein, beim Fado Vadio darf jeder auftreten, der die Lust und den Mut dazu hat. Die junge Verkäuferin mit der kraftvollen Stimme ebenso wie der alte Pensionär, der eigentlich nur noch sprechen, aber nicht mehr singen kann. Allein von einer Gitarre begleitet,wird das Lokal zum Forum für alle, die sich ausdrücken möchten. Einzige Bedingung, die den Amateuren gestellt wird: Zum traditionellen Liedtext soll eine eigene Strophe dazuerfunden werden, aber ganz so strikt sind die Gesetze nicht. Wem die Dichtkunst nicht hold war, der darf trotzdem ran. Streng geahndet werden allerdings alle, die während des Vortrags respektlos plaudern und die Konzentration stören. „Ssssst! Silêncio, que se vai cantar o
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