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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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immer Schwierigkeiten, das gesprochene Wort zu verstehen, egal, wie intensiv ich meinen Gegenübern auf den Mund starre. Was, so frage ich Inês jede Woche beharrlich aufs Neue, haben sich die Portugiesen eigentlich dabei gedacht, als sie das „Schnuddeln“ zum offiziellen Charakteristikum ihrer Sprache ernannten? Wozu, bitte schön, braucht es all die Glissandi, Legati, Accelerandi und sonstigen perfiden Möglichkeiten, die Grenzen zwischen den Worten verschwimmen und mich verzweifeln zulassen? – Inês’ Antwort ist von Woche zu Woche gleich und erschöpft sich in einem lächelnden Schulterzucken.
    • Herr Victor – den ich neuerdings duze und deshalb nur noch Victor nenne – ist stolz auf mich: Ich habe tatsächlich ein bisschen an Gewicht zugelegt. Das könnte an dem rustikalen portugiesischen Essen liegen. Oder daran, dass Victor dazu übergegangen ist, mir die Lebensmittel, die er kurz vor dem Verfallsdatum aussortieren muss, zu schenken – egal wie heftig ich protestiere.
    • Es gibt zwei Dinge, an die ich mich nicht gewöhnen kann, weil sie mir einfach nicht in den Kopf wollen:
    a) Portugiesen haben unendlich viele Namen. Sie heißen José Manuel Durão Barroso. Oder: Ana Maria Sousa Moreira. Weil sie sowohl den Nachnamen der Mutter als auch den Nachnamen des Vaters erhalten – und häufig auch zwei Vornamen besitzen. Portugiesen also befinden sich in der privilegierten Lage, wahre Füllhorner an wohlklingenden Namen mit sich herumzutragen – aber sie verwenden sie nicht. Weder am Telefon noch auf dem Klingelschild. Sodass ich mich jedes Mal, wenn ich jemanden besuchen möchte, ratlos frage, auf welche der vielen Knöpfe, die lediglich die Nummern der Etagen tragen, ich drücken soll.
    b) In Portugal zählt man – außer Samstag und Sonntag, die Sábado und Domingo heißen – die Wochentage einfach durch. Segunda-feira, Terça-feira, Quarta-feira, Quintafeira, Sexta-feira. Und es will mir einfach nicht in den Kopf, dass der Montag Segunda heißt, weil er für mich nun mal der erste Tag der Woche ist.
    • Mein kleines Zimmerchen ist noch kleiner geworden, weil es mir nicht mehr alleine gehört. Seit ich ihn im September – ausnahmsweise – bei mir habe übernachten lassen, hat der Kater Bob Marley jeden Zentimeter meinesQuartiers besetzt, so selbstverständlich, als wolle er in die Fußstapfen der portugiesischen Conquistadores treten. Egal, ob es ums Bett, den Schreibtisch oder den Sessel geht – Bob Marley gehört die Welt.
    • Ich habe nicht mit dem Rauchen begonnen und trotzdem mit dem Spucken aufgehört.
    • Nur eine herbe Schlappe habe ich auf meinem bisherigen Weg der Einbürgerung erlitten (unter den hingebungsvollen Blicken der beiden Teenies steuert die Telenovela im Fernsehen auf ihr Ende zu, wappnet sich für den Cliffhanger, untermalt von dramatischer Musik): Ich habe es irgendwann ohne Schwarzbrot nicht mehr ausgehalten. Weil ich von Kindesbeinen an darauf konditioniert bin. Und weil das portugiesische Brot einfach aus nichts besteht. Und das, was hier in manchen Bäckereien als Vollkornbrot bezeichnet wird, sich ebenfalls aus nichts zusammensetzt. Also habe ich die ganze Stadt durchkämmt und schließlich in einem der raren, an einer Hand abzählbaren Bioläden schnödes, aus Deutschland importiertes Schwarzbrot gefunden, das ich nun abends verschämt und unter den mitleidigen Blicken von Marta und Jorge in mich hinein mümmle.
    Alles in allem, so finde ich, ist das eine ziemlich gute Bilanz. Alles in allem, so denke ich, kann ich dem Jahreswechsel gelassen entgegensehen. Ich falte die Papiertischdecke mit dem ungewöhnlichen Stammbaum zusammen, verstaue sie samt Notizbuch in meiner Tasche, verspreche den beiden Teenies, dass ich ab sofort regelmäßig die Telenovela schauen werde, und winke ihnen noch einmal zu, als ich durch die Tür gehe. „Boas entradas!“, rufen sie mir fröhlich hinterher, während sie den Fernseher ausschalten, „Guten Rutsch!“
    ✽✽✽
    Zwei Tage später stehe ich mit Inês und ihrer Freundin Teresa auf dem Miradouro da Igreja da Graça, trinke Sekt und feiere das wohl ruhigste Silvester meines Lebens. Wegen der Wirtschaftskrise hat die portugiesische Regierung nicht nur die Weihnachtsdekoration gestrichen, sondern auch das Feuerwerk, das in Portugal klugerweise Staatsaffäre ist. Privatpersonen dürfen hier nicht einfach herumknallen, weswegen es auch keine Böller im Supermarkt zu kaufen gibt. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass ich mich

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