Ein Jahr in Lissabon
an Silvester endlich einmal nicht wie im Krieg fühlen muss, den unverhofft explodierenden Böllern gleich Tretminen ausweichend. Die Lichter der Stadt, die sich auf dem Wasser des Tejo brechen, sind Feuerwerks genug – und hier oben, vom Miradouro aus betrachtet, legen sie sich uns sogar zu Füßen.
Nicht nur an Silvester, auch sonst gehören die Miradouros zu meinen liebsten Orten in Lissabon, es vergeht kein Tag, an dem ich nicht wenigstens ein paar Minuten auf einem der vielen Aussichtspunkte dieser Stadt verbringe. Wörtlich übersetzt heißt Miradouro: Gold sehen – und Gold kann man hier fast von jedem Viertel aus betrachten, in Graça sogar von zwei verschiedenen Stellen aus. Die Miradouros bieten die Möglichkeit, den Blick zu weiten, die Augen ein Stück Unendlichkeit atmen und zur Ruhe kommen zu lassen – so, als stünde man am Meer. Nur, dass die Unendlichkeit hier nicht aus Wasser und Horizont, sondern aus Häuserwürfeln und Horizont besteht. Ich habe ihnen einen Namen gegeben, diesen Aussichtspunkten, habe sie „Fermaten“ getauft. „Fermaten“, weil sie, mitten im Großstadtgetümmel, mitten im Alltag, Orte sind, an denen der Zeitfluss einfach innehält.
Die Miradouros, so meine Überzeugung, verändern das Sehen. Und das Sehen ist wichtig in Lissabon. Wenn mandurch die Straßen geht und nach oben blickt, entdeckt man oft ein Gesicht, das am Fenster lehnt, um nichts anderes zu tun, als zu schauen. Es ist kein voyeuristischer Blick, keiner, der sich spionierend hinter dem Vorhang versteckt. Es ist ein reflexiver, sich versenkender Blick, ein Blick, der an den Miradouros in die Schule gegangen ist. Manchmal scheint es mir, dass selbst die Katzen, die majestätisch auf den Fenstersimsen residieren, diesen meditativen Blick besitzen.
Dez – nove – oito – sete – seis … der Countdown reißt mich aus meinen Gedanken, nur noch wenige Sekunden bis Mitternacht! Schnell streuen wir Rosinen in unsere Hände – und dann schlägt die Kirchenglocke der Igreja da Graça zwölf Mal. Mit jedem Glockenschlag stopfen wir uns eine Rosine in den Mund, denn der Brauch will es, dass auf diese Weise zwölf Wünsche in Erfüllung gehen. Und danach umarmen wir uns, stoßen mit den Pappbechern an und ziehen Topfdeckel aus unseren Taschen, um doch noch ein bisschen Lärm in dieses stille Silvester zu bringen: Wir schlagen die Deckel aneinander und weil auch das zu den portugiesischen Bräuchen gehört, tun es um uns herum uns alle gleich, oben auf dem Miradouro und unten in der Baixa, diesseits und jenseits des Tejo, draußen auf den Straßen und drinnen in den Häusern, vor und hinter den Fenstern – ringsum werden Töpfe und Kochlöffel strapaziert, damit wir alle gemeinsam mit einer lauthals kakofonen Fanfare der Kücheninstrumente ins neue Jahr einziehen können. Und über das Deckelgeklapper hinweg rufen wir „Um bom ano novo!“ in die Welt, und weil wir so neugierig sind, wollen wir voneinander wissen, was die Rosinen denn wahr machen sollen. „Eigentlich ist es streng verboten, die Wünsche zu verraten“, warnt Inês, „dann gehen sie nicht in Erfüllung.“ – „Ach, einen von den zwölfendarf man bestimmt sagen!“, schreit Teresa über den Lärm hinweg zurück. – „Also los! Wer fängt an?“ – „Ich will einen guten Job!“, ruft Teresa uns zu und schickt noch grinsend hinterher: „Und natürlich hab ich, wie jedes Jahr, ewige Schönheit bestellt!“ Inês gießt noch einen Schluck Sekt nach und gesteht schüchtern, dass die Rosinen ihr eine neue Liebe bringen sollen.
Und ich? Ich habe mir zwölf Mal dasselbe gewünscht: dass gerade alles so bleibt, wie es ist. Weil sich mein Wunsch nämlich schon erfüllt hat: hier zu sein in Lissabon. Hier zu sein, wo ich so glücklich bin.
Und deshalb will ich jetzt noch einmal anstoßen. Saúde! Auf Lissabon – und auf die kommenden Monate in dieser Stadt!
Janeiro
D AS NEUE J AHR BEGINNT MIT EINEM P AUKENSCHLAG : Mir ist der Diphthong in die Nase gerutscht. Einfach so. Ohne dass ich gemogelt habe. Weder habe ich mir die Nase zugehalten noch war ich verschnupft. Es passierte vor zwei Minuten, als ich Victors Laden betrat, um mir vor der Arbeit noch schnell eine Flasche Wasser zu holen. Ich begrüßte Victor wie immer mit einem „Bom dia, tudo bem?“ und dann den Hund mit „Olá, Cão!“. Da prickelte es plötzlich in meiner Nase, und ein mir bisher nicht bekannter Resonanzraum öffnete sich zu ungeahntem Volumen. „Cão“ wiederhole ich,
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