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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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zerbrechlich, dass sie nicht mehr alleine auf die Bühne gehen kann und sich dort sichtlich unwohl fühlt. Scheu wie ein Reh singt sie, mehr für sich denn für die Öffentlichkeit.
    „Schicksal“ bedeutet Fado übersetzt, und tatsächlich herrscht jedes Mal, bevor die Musik beginnt, eine dichte, demütige Stille, so, als würde sich das gesamte Publikum, ungeachtet der Fernsehkameras, in einen inneren Rückzug begeben, um möglichst aufmerksam hören zu können. „Fado kann man nicht lernen, den Fado trägt man in sich oder nicht“, behaupten die Portugiesen, um zu unterstreichen, dass es bei diesem Gesang weniger um eine technische Fertigkeit denn um den Ausdruck eines emotionalen Zustands geht: um die Seele, die sich nach außen kehrt. Deshalb gibt es in Portugal auch kein Konservatorium, um den Fado zu studieren. Vielmehr zeigt die Geschichte der meisten berühmten Fado-Sänger, dass sie bereits als Kinder in Kontakt gekommen sind mit der Musik, weil die Mutter eine Fadista oder der Vater ein Gitarrist war – und das Handwerk somit quasi in der Familie weitergegeben wurde.
    „Estás a gostar? – Gefällt’s dir?“, fragt mich der junge Mann neben mir. Wir kommen ins Gespräch und Ricardo verrät mir, dass er selbst ein Fado-Gitarrist ist. Ricardo, somerke ich, ist aber zugleich auch ein Spielverderber. Denn während wir plaudern und ich stolz all die Kenntnisse ausbreite, die ich mir bisher über den Fado angeeignet habe, entmythologisiert er trocken meine reproduzierten Klischees. „Klar geht es um alles beim Fado, klar kommt der Gesang aus der Tiefe der Seele, aber um ganz ehrlich zu sein: Für mich ist Fado Mathematik.“ – „Mathematik? Wie meinst du das?“ frage ich entgeistert. – „Nächste Woche spiele ich mit ein paar Leuten im Café des Fado-Museums. Um 22 Uhr haben die Touristen ihr Menü gegessen und das Zuhören kostet keinen Eintritt mehr. Komm doch vorbei, dann erkläre ich dir genauer, was ich meine.“
    Also lerne ich wenige Tage später den Fado Professional aus der Nähe kennen. Förmlicher als der Fado Vadio – und hier, in dem kleinen Café, wesentlich intimer als im Coliseu. Neben Ricardo, der die Bassgitarre, die Viola baixo, spielt, sitzen zwei weitere Gitarristen, einer mit einer normalen Gitarre, der andere mit einem zwölfsaitigen, mandolinenartigen Instrument, der Guitarra portuguesa. Letztere ist für die melodische Linie, für die Verzierungen und die Ornamentik, für den Dialog mit dem Sänger zuständig. Ich kann dem Musiker direkt auf die Finger schauen und sehen, dass er mit seiner rechten Hand nur zwei Finger einsetzt – den Daumen und den Zeigefinger. Um das Zupfen zu erleichtern, steckt auf beiden Fingern eine Art Kralle, ein Hütchen mit metallenem Plektron. So wird ein Klang erzeugt, der einerseits folkloristisch, andererseits aber auch artifiziell und kunstvoll wirkt. Zart und rau zugleich. Die drei Gitarristen bilden ein eingespieltes und empathisches Ensemble, sie atmen mit dem Sänger, drängen sich nie in den Vordergrund. Und nach jedem Lied, während der Applaus spricht, flüstert der Fadista seinen drei Musikern etwas zu – und sie reagieren unmittelbar.
    „Ich habe das natürlich ein bisschen provokant formuliert mit der Mathematik“, grinst Ricardo in der Pause, „aber ganz aus der Luft gegriffen ist es nicht. Du hast ja gerade gesehen, dass wir Gitarristen das gesamte Repertoire auswendig draufhaben. Rui“, er zeigt auf den Sänger, „sagt uns einen Liedtitel und eine Tonart an, und wir müssen in der Lage sein, die Noten spontan zu transponieren. Das hat manchmal leider mehr mit Kopfrechnen als mit Musik zu tun …“ Auch während wir uns unterhalten, klimpern die drei Musiker backstage unaufhörlich weiter, so, als seien sie mit ihrem Instrument verwachsen. Ricardos Kollegen sind schätzungsweise vierzehn Jahre alt und ich frage, ob sie seine Schüler sind. „Nee“, lacht er, „die sind schon besser als ich. Die meisten fangen hier sehr früh an – und können dann nicht mehr aufhören.“
    Von Ricardo erfahre ich alles über den Fado: Dass er Ende des 18 . Jahrhunderts entstanden ist, man sich jedoch über seine Herkunft streitet – darüber, ob er von den portugiesischen Seeleuten entwickelt wurde oder brasilianische Ursprünge besitzt. Dass er aber auf jeden Fall seinen Platz in Lissabon hatte, in der Mouraria, dem Viertel der Prostituierten, und „A severa“, eine Prostituierte, die erste Fadista war, die diesen Gesang

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