Ein Jahr in London
Schornstein, um dort Geschenke abzuliefern. Der schöne Blick von meinem Balkon ist wohl für die nächsten Wochen erst Mal zerstört.
Doch es soll noch schlimmer kommen.
Mit dem Weihnachtsmann ist bei meinen Nachbarn noch lange nicht das Ende der diesjährigen Dekoration erreicht. Es fängt jetzt erst richtig an.
Neben dem Weihnachtsmann erscheinen auf dem Dach balancierend ein giftgrünes Plastikrentier, dessen Augen im Wechseltakt rot blinken, und unzählige neonfarbene Sterne, die an den wenigen noch freien Stellen an der Hauswand befestigt sind. Und auch diese blinken unnachgiebig. Nun ist dies nicht nur ästhetisch einfach nicht akzeptabel, finde ich, sondern es verspricht schlaflose Nächte für sämtliche Nachbarn in der näheren Umgebung. Denn Rollläden gibt es nicht in England.
In der ersten Nacht mache ich kein Auge zu, denn in meinem Zimmer flimmert es, als wären fünf Blaulichtwagen direkt vor meinem Fenster geparkt. Fast denke ich an Umzug. Doch einige Tage später lerne ich dann einen etwas sympathischeren Nachbarn kennen, dessen Anwesenheit meine Straße wieder aufwertet: Als ich an einem Samstagmorgen in dem kleinen Supermarkt direkt neben dem grünen Hügel von Primrose Hill etwas Gemüse für das Mittagessen kaufen will, steht in der Schlange vor mir ein Mann Mitte dreißig, der mit einem blondgelockten kleinen Jungen schimpft, der wie am Spieß schreit, weil er keine Gummibärchen kaufen darf.
„Wenn du nicht sofort aufhörst, musst du gleich ins Bett, du kleiner Strolch!“
Ich zucke zusammen. Irgendetwas kommt mir bekannt vor. Die Stimme kenne ich doch!
Nein, das kann doch nicht sein. Ich mustere den Mann vor mir genauer, dann schaue ich hinüber zum Zeitungsregal. Alle Blätter haben die gleiche Schlagzeile: „Jude Law entschuldigt sich für Affäre mit Kindermädchen“. Daneben große Bilder des Schauspielers, die ihn mit traurigem Blick in die Kamera schauend zeigen oder mit einem als Entschuldigung für seine Verlobte bestimmten Blumenstrauß im Arm.
„Jude voller Reue!“
„Sienna Miller trennt sich von Englands schönstem Mann!“
Ich schaue zurück zu dem Vater vor mir, der mittlerweile dem Jungen doch die Gummibärchen gekauft hat, um endlich Ruhe zu haben. Der Junge kreischt weiter.
Der schönste Mann Englands? Da steht er direkt vor mir, und ich habe ihn noch nicht einmal erkannt.
Ich merke plötzlich, dass meine Hände zittern und ich Mühe habe, das Brot und den Käse nicht auf den Boden fallen zu lassen. Dabei, so sage ich mir immer wieder, mag ich den Schauspieler noch nicht einmal besonders und sowieso ist es albern, Berühmtheiten wie ihm mehr Aufmerksamkeit zu schenken als Normalsterblichen.
Und trotzdem, irgendwas muss ich tun – diese einzigartige Gelegenheit, einmal Jude Law persönlich vor mir zu haben, kann ich doch nicht so einfach ohne ein Wort verstreichen lassen! Aber was?
Schon ist er an der Reihe und bezahlt, und ich habe nur noch wenige Augenblicke, um mir einen Plan auszudenken, mit ihm ins Gespräch zu kommen.
Was könnte ich nur sagen?
„Hallo Jude, diese ganze Sache mit der Affäre tut mir leid, ich hoffe, es renkt sich alles wieder ein“ – nein, das geht mich ja gar nichts an.
„Ich konnte Sienna noch nie leiden“ – das erst recht nicht.
„Dein letzter Film war wirklich super!“ – zu langweilig.
Es hilft alles nichts, er dreht sich um und geht zur Tür, und ich habe immer noch nicht den Mund aufgemacht.
Da verliert das Kind plötzlich das Gleichgewicht und fällt nach hinten. Es hätte sich sehr weh tun können, es hätte sich das Genick brechen können, aber wer kommt zu Hilfe? Ich!
Mit schnellem Griff rette ich den Jungen vor einem halsbrecherischen Fall, und für einen Moment krallt sich seine kleine Hand in meine, bis er dann heulend in die Arme seines Vaters entflieht.
„Oh, I’m so sorry, thank you so much!“ , lächelt der mich an, während ich vor Glück fast dahinschmelze.
Doch das Einzige, was ich zur Antwort herausbringe, ist ein heiseres „no problem“ .
Und schon ist er zur Tür hinaus und verschwunden.
Ich schwebe im siebten Himmel und schaue mich in der Hoffnung um, dass möglichst viele den Vorfall mitbekommen hätten. Doch die anderen Leute in der Schlange hinter mir schauen gleichgültig vor sich hin.
Irgendwie rutscht es mir dann doch raus: „That was Jude Law!“
Sind die denn alle blind? Die Frau hinter mir räuspert sich und lächelt beschämt, eine andere Frau verdreht die Augen, als
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