Ein Jahr in London
Wettbewerbsdenken abtut, handelt es sich ganz ohne Frage um den unbeholfenen Studenten von nebenan, der jedes Jahr nur einen Gruß von seinen Eltern erhält.
Auch ich habe noch lange nicht die erwünschte Menge an Karten vorzuzeigen, doch dem ist leicht Abhilfe zu schaffen: Ich hänge meine zwölf schon erhaltenen Karten an eine Wäscheleine, die an der Wand entlangläuft und einem sofort beim Betreten meines Zimmers ins Auge fällt. Noch muss ich dieKarten weit auseinanderhängen, um einen Schein von Fülle zu erzeugen, doch ich habe einen Plan. Je näher die Weihnachtsferien rücken, desto entspannter wird der Unterricht an der Schule, und ich beschließe, dass es an der Zeit sei, einige Kartenbastelstunden einzufügen. „Unser Lernziel für heute: Merry Christmas auf Deutsch sagen zu können, und Miss Regeniters Wäscheleine bis zum Bersten mit Karten zu füllen.“
Es gibt sogar einen Preis für die schönste Karte, und so schneiden, kleben und malen sämtliche meiner Klassen Stunde um Stunde höchst angestrengt und produzieren eine Karte nach der anderen.
„An wen sollen wir die Karten denn adressieren?“
„Ja, an mich natürlich“, sage ich und wende mich schnell dem nächsten Schüler zu. Gott sei Dank stellt keines der Kinder meine Anweisung in Frage, und so habe ich bald buchstäblich Hunderte von persönlich an mich geschriebenen Weihnachtskarten. Und da das Basteln den Kindern sehr viel mehr Spaß macht als Vokabeln zu lernen, sind auch die Unmotiviertesten eifrig bei der Sache. Sam, der sich sonst nur durch seine unbeschreibliche Frechheit auszeichnet, schreibt: „For Miss, Frohlich Weinnacht. Ruten Gutsch in Neues Jahr. Viel Leibe von Sam. Kußchen, Kußchen, Kußchen. PS: Deusch is gutt.“ Ich bin sehr gerührt und gebe der Karte einen Ehrenplatz an meiner Wäscheleine.
Am Ende muss ich sogar noch zwei weitere Schnüre aufhängen, um genug Platz zu machen für all die Weihnachtsgrüße. Wer auch immer jetzt mein Zimmer betritt, muss denken, ich wäre entweder höchst berühmt oder hätte soeben im Lotto gewonnen, denn wie sonst wäre meine ungemeine Beliebtheit zu erklären?!
Nicht jeder ist jedoch von meinem Weihnachtsschmuck so angetan wie ich selber.
„Mamma mia, was ist denn in deinem Zimmer passiert? Und es ist doch noch nicht einmal Dezember!“, ruft Felice, als er meine neue Dekoration zum ersten Mal zu Gesichtbekommt. Elli hingegen, die natürlich schon von klein auf mit dieser Kartenkonkurrenz zu kämpfen gehabt hat, ist beeindruckt, wenn sie dies auch nur mit typisch englischem Understatement zu verkünden wagt: „Mhh, nicht schlecht. Die eine oder andere Karte hast also selbst du bekommen.“
Ich bin sehr stolz und fühle mich endlich richtig in die englische Gesellschaft eingegliedert. Jetzt fehlt nur noch der Kamin und alles ist perfekt. So denke ich jedenfalls, bis mich einige Tage später ein Mädchen in meiner Klasse anspricht.
„Warum haben Sie denn keine Karten in Ihrem Klassenzimmer? Hat Ihnen denn noch niemand eine Weihnachtskarte geschickt? Miss Miller hat bestimmt schon fünfzig an ihrer Wand hängen!“
Zur Freude meiner Schüler fangen die Kartenbastelstunden also wieder von vorne an, und diesmal bitte ich darum, auch einige unbeschriftete Karten zu produzieren. Denn das Kartenschicken kann einem auch finanziell an den Kragen gehen: Wenn man bedenkt, dass der Durchschnittsbrite um die fünfzig Karten pro Jahr verschickt und noch dazu das Porto bezahlt werden muss, kommt eine ordentliche Summe zusammen.
Gerade jetzt, wo ich vom Kartensammeln und Kartenschicken beansprucht bin und gerade erst mein Schlafdefizit vom Beginn des Monats wieder wettgemacht habe, denken sich meine Nachbarn leider eine neue Schikane aus, um mich in den Wahnsinn zu treiben.
Zum ersten Mal bekomme ich davon Wind, als ich beobachte, wie der Mann vom Haus schräg gegenüber langsam eine rote Plane vom Dach abseilt, die fast bis zum Boden reicht und alle Fenster an der Hausvorderseite bedeckt.
Ich überlege mit Schrecken, dass die Nachbarn wahrscheinlich ihr Haus renovieren und von nun an von sieben Uhr morgens am Bohren sein werden.
Die Wahrheit ist natürlich viel schlimmer. Im Laufe des Tages wird die Plane von einem der Zimmer aus mit Luftaufgepumpt und nimmt immer mehr an Form an. Schließlich wird mir klar: Die rote Plane ist ein aufblasbarer Plastikweihnachtsmann, der in seiner vollen Größe ein Viertel der Hauswand einnimmt und aussieht, als wäre er gerade auf dem Weg zum
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