Ein Jahr in London
ich von nun an „Frau“ genannt, obwohl vielen auch gar nicht klar ist, was das nun wirklich zu bedeuten hat.
„Ist ‚Frau‘ Ihr Vorname, Miss?“, fragen mich etliche Schüler.
„Die anderen Lehrer verraten uns ihre Vornamen gar nicht, macht man das so in Deutschland?“
Für sie ist von nun an klar: Vorname – „Frau“, Nachname – „Terminator“.
Das Frau-oder-Fräulein-Problem bringt mir aber auch Schwierigkeiten anderer Art. Miss Miller beginnt jede ihrer Schulstunden mit einem begeisterten „Guten Morgen, die Klasse!“, was ich niemals wagen würde, in Frage zu stellen. Schließlich ist Miss Miller meine unmittelbare Vorgesetzte und ich auf ihre Gunst angewiesen.
Doch als ich während einer Freistunde in meinem Klassenzimmer sitzend Hefte korrigiere, höre ich, wie einige Kinder in ihrer Klasse nebenan auf ihren Gruß nicht mit ihrem normalen „Gut Morgen, Fräulein!“ antworten, sondern mit „Guten Morgen, Frau!“ Ein paar Sekunden wird es still, dann sagt sie drohend: „Frau? Wer hat euch beigebracht, das zu sagen?“
„Miss Terminator! Und die ist schließlich Deutsche!“
Als wir uns in der Pause im Lehrerzimmer sehen, wirft sie mir einen eisigen Blick zu, und mir fällt Maddies Warnung ein, mich vor ihr in Acht zu nehmen.
Der November ist für viele Londoner ein schlafloser Monat, denn am fünften November ist Bonfire Night . Und an diesem Tag ist es Pflicht, so viele Raketen, Heuler und Böller wie möglich abzuknallen.
Bis 1959 war das Nichtfeiern sogar gesetzlich verboten: Wer nicht feierte, war ein Staatsfeind, denn schließlich wird mit den Feuerwerken der Hinrichtung Guy Fawkes gedacht, der im Jahre 1605 Hochverrat beging und versuchte, das englische Parlament in die Luft zu jagen. Und zwar, um sich gegen die Unterdrückung der Katholiken im Lande einzusetzen.
Aber da die Briten sich nicht so eng an Regeln halten, nehmen sie es auch mit dem Jahrestag nicht ganz genau – knallen tut es schon Wochen vorher, und zwar in einer das Trommelfell schädigenden Lautstärke. Denn während man bei uns zu Silvester ausnahmsweise für ein paar Tage Feuerwerke der Kategorie 2 erstehen kann, ist es hier kein Problem, Knaller mit Stärke 3 oder 4 und so beeindruckenden Namen wie „Koloss“ und „Urknall“ zu kaufen.
Als wieder einmal um zwei Uhr nachts ein Böller nach dem anderen mit der Unaufdringlichkeit eines Düsenjägers direkt vor unserem Haus gezündet wird, klopfe ich an Yitkees Tür, aus der noch ein Lichtstrahl fällt.
„Schläfst du auch noch nicht?“
„Ich schlafe im November immer tagsüber“, entgegnet Yitkee resigniert.
„Aber es sind nur noch zwei Tage bis zum fünften, und anschließend wird es für ein paar Tage ruhiger.“
„Für ein paar Tage?“, frage ich, Böses ahnend.
„Ein paar Tage ist Ruhe, wenn wir Glück haben, und dann ist Diwali. Das Lichtfest der Hindus ...“
„... und das wird mit Raketen und Knallern gefeiert“, beende ich seinen Satz. Hindus gibt es in London eine Menge, schließlich war Indien mal britische Kolonie. Bis Diwali, denke ich allerdings, werde ich wohl einen solchen Schlafmangel haben, dass das ganze Haus explodieren könnte, ohne mich zu wecken.
Aber Mr Fawkes’ gescheiterter Sprengstoffanschlag hat auch seine guten Seiten: Überall in der Stadt gibt es riesige Feuer, und das größte und beliebteste findet gleich um die Ecke statt. Auf dem Hügel von Primrose Hill.
Da der Fünfte in diesem Jahr auf einen Montag fällt, wird die „Bonfire Night“ aus praktischen Gründen halt ein paar Tage vorgeschoben. Die Feier findet also am Samstag statt, um acht Uhr abends, und schon vom frühen Nachmittag an füllen sich langsam die Straßen. Immer mehr Menschen strömen unsere Straße entlang Richtung Park, und die Pubs sind so voll, dass die Leute an allen Ecken auf die Bürgersteige drängen.
Wie immer gut organisiert, hat Yitkee ein paar Leuchtkerzen besorgt, und um auch Teil des Geschehens zu sein, stehen wir zu zweit auf unserem Balkon und schwenken die flimmernden Stäbchen elegant durch die Luft.
„Auf den Hügel müssen wir aber auch, oder?“, frage ich, als es langsam Zeit wird für den Beginn des Feuers.
Wir lassen uns also von den Massen Richtung Park mitreißen. Alle umliegenden Straßen sind abgesperrt, Autos würden bei diesem Gedränge sowieso nicht durchkommen, und der Bürgersteig ist bedeckt mit abgebrannten Leuchtkerzen, weggeworfenen Dosen und Chipstüten. Als wir die Häuser hinter uns lassen
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