Ein Jahr in New York
seinen Höhepunkt, als der traditionelle Christmas Tree das erste Mal erleuchtet wurde. Eine aufwendige, gut vermarktete Zeremonie, die im Fernsehen übertragen wurde und am nächsten Morgen sogar das Titelbild der Times zierte. Der offizielle Start der Weihnachtssaison.
Die Tanne stand direkt hinter der goldenen Prometheus-Statue an der Schlittschuhbahn. Mittags schauten wir uns dort manchmal die Eisläufer an. Meine Lieblingsläuferin war eine junge Frau in einem rosafarbenen, hautengen Anzug. Jeden Tag drehte sie dort ihre Pirouetten. „Die ist so konzentriert, als wenn ihr eine Richterjury zuschauen würde“, bemerkte Vanessa. „Ja, irgendwie traurig, dass stattdessen lauter Touristen und Büromenschen wie wir hier stehen und nur mal kurz emotionslos vom Mittagessen aufschauen“, antwortete ich, während ich in mein Sandwich biss.
Über dieser Kulisse wachte der majestätische Weihnachtsbaum, für dessen Entdeckung schon im Sommer ein Spezialteam ausrückt. Gesucht wird die schönste Tanne im ganzen Land. Per Helikopter. Etliche Menschen schicken alljährlich Bewerbungsschreiben, in der Hoffnung, dass ihre Riesentanne die ruhmvolle Reise nach New York antritt. 30 000 rote, blaue und weiße patriotische Glühbirnchen schmückten den fast dreißig Meter hohen Baum. „Ich bin mir sicher, die mogeln und plustern die Tanne mit Ästen von anderen Tannen auf“, behauptete ein Freund aus Deutschland einmal. „Quatsch, auf keinen Fall“, entgegnete ich. Diesen Weihnachtsbetrug würde New York sich niemals verzeihen.
„Gerd, den hatt ick mir vill jrößa vorjestellt. Det is ja ’n mickrijes Ding“, moserte mittags ein Frau neben mir. Wir Deutschen, typisch – immer was zu meckern. Ich hielt mir innerlich den Mund zu. „Jetzt nur keine Silbe von dir geben“, bremste ich mich im Geiste selber aus. Zugegeben, der Baum verschlug einem nicht gerade die Sprache, aber vor den riesigen Rockefeller-Türmen war es für einen Baum fast unmöglich, höhenmäßig zu beeindrucken. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, die Tanne zu verteidigen. Aber diese Blitzgespräche voll unnötiger Offenheit, die man nur führte, weil man in der Fremde fremden Deutschen plötzlich nicht mehr fremd sein durfte, waren ermüdend und alle gleich. Deshalb schwieg ich lieber.
Die Weihnachtseuphorie steigerte sich von Tag zu Tag. Die Schaufenster auf der 5 th Avenue weihnachteten um die Wette und Kaufhäuser wie Saks und Macy’s versuchten, sich gegenseitig mit ihren glamourösen Dekorations-Orgien zu übertrumpfen. So auch die Touristen, die Rekorde im Shoppingtüten-Tragen aufstellten und sich damit den Weg freischubsten. Es war mittlerweile ziemlich kalt geworden. Und kalt bedeutet hier wirklich kalt. Eiskalt. Die armen Budenverkäufer hatten sich bis zur Unkenntlichkeit mit Schals und Mützen vermummt. Es qualmte von ihren Grillrosten in die kalte Winterluft. Der Duft von gebackenen Kastanien konkurrierte mit dem gerösteter Mandeln. Aus den U-Bahn-Schächten quollen warme weiße Dunstwolken durch die Bürgersteigroste. Weihnachtsmusik drang schwallweiße aus den Läden, sobald sich die Türen öffneten.
Auch mich hatte der Kaufrausch erwischt. Schließlich lebte ich in der Weihnachtsshopping-Welthauptstadt. Ich wollte meine deutschen Freunde und meine Familie natürlich mit originellen Weihnachtsgeschenken beeindrucken.Das mühsame Einpacken vor meiner Abreise hätte ich mir allerdings sparen können. Gleich nach der Landung in Hamburg wurde ich mit meinen schweren Taschen in das Hinterzimmer des deutschen Zolls eskortiert. Dort durfte ich dann alle Geschenke auspacken. Ich hatte Glück im Unglück. Alle Dinge, die zum Vorschein kamen, wurden von den Beamten als Geschenke und nicht als eingeschmuggelte Ware identifiziert. Ich musste keinen Zoll nachzahlen und hatte kein Strafverfahren am Hals. So packte ich alles wieder in die Tasche, und das Geschenkpapier landete im Müll, noch bevor das Weihnachtsfest begonnen hatte.
Vor meiner Abreise gab es allerdings noch etwas Wichtiges zu erledigen. Ich wollte mir eine neue Wohnung suchen. Ich hatte mich entschieden. Meine Zeit in Harlem war beendet. Das nächste Jahr wollte ich in einer neuen Neighborhood beginnen. „Überleg dir das gut, eine eigene Wohnung wirst du für das Geld nie wieder finden“, warnte mich Vanessa. Wir standen in der Küche und bereiteten unseren Lunchsalat zu. In der Weihnachtszeit die schnellere Alternative.
„Egal. Ich bin bereit, zu teilen und mich durch
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