Ein Jahr in San Francisco
deutscher Kollege kurz vor meiner Abreise erzählt, der selbst für einige Monate in San Francisco gelebt hat. Also nicht mehr als dreißig Minuten Fußweg.
Die Market Street verläuft als Hauptverkehrsader quer durch die ganze Stadt. Früher diente sie als soziale Grenze, denn im Süden der Stadt lag The other City , in der die Arbeiter wohnten. Auch heute ist die Market Street noch sehr gut zur Orientierung geeignet, ich brauche lediglich die Sutter Street achteinhalb Blocks hinunterzulaufen, schon komme ich auf diese Hauptstraße. Fast fühle ich mich ein bisschenstolz, dass ich den Weg sofort finde. Aber dank des rechtwinkeligen Straßenrasters, das die Stadtplaner San Francisco übergestülpt haben, verläuft sich hier selbst jemand mit dem Orientierungssinn eines blinden Huhns wie ich nicht. Obwohl bereits um halb neun buntes Treiben in den Straßen herrscht, empfinde ich es entspannter und gemütlicher als das morgendliche Getümmel, das ich noch aus meinem New-York-Urlaub kenne. Und auch das Bankenviertel von San Francisco wirkt im Vergleich zu anderen Metropolen beschaulich und kompakt: moderne Bürokomplexe, die gerade so hoch sind, dass die Sonne sich noch in ihre Schluchten drücken kann, Kreuzungen mit nostalgischen Straßenschildern erwecken den Eindruck, als seien sie seit Jahrzehnten nicht mehr ausgetauscht worden. Und doch protzt auch das Bankenviertel von San Francisco mit einigen pompösen Office-Bunkern, deren Eingänge einen mit imponierenden Säulenbauten willkommen heißen und deren Fensterfronten in der Morgensonne funkeln. Zum Beispiel die Transamerica Pyramid, das 260 Meter hohe Wahrzeichen der Stadt, dessen Spitze im Nebel vollständig in den Wolken untertaucht und das aufgrund der andauernden Erdbebengefahr auf hydraulischen Federn gebaut ist.
Lässig sind die Passanten gekleidet, beziehungsweise, wie Amerikaner sagen, casual . Ein rundlicher Junge, komplett in das Fan-Outfit des lokalen Baseball-Teams San Francisco Giants gepresst, leuchtet wie ein schwarz-orangefarbenes Bonbon. Und was mich verwundert: Ich erblicke nur wenige Schlips- und Anzugträger. Kein High-Heel-Gestöckel, keine Make-up-Masken, kein elegantes Schaulaufen, dafür besonnene Gemüter in Jeans, Blusen, T-Shirts und Turnschuhen. Dabei ist es Montagmorgen, und ich bin im Bankenviertel! Doch ich erinnere mich wieder: Mein Kollege hatte erwähnt, dass in San Francisco statt geschniegelter Banker mit poliertem Schuhwerk eher die unauffälligen Entwickler in T-Shirtsund Turnschuhen und anstelle von aufgetakelten Damen mit Prada-Tasche mehr bizarre Künstler mit Blumen in den Haaren leben.
Es ist nicht allzu erstaunlich, dass San Francisco geruhsamer wirkt, die Stadt ist mit ihren circa 800 000 Einwohnern ungefähr vergleichbar mit Amsterdam und lediglich die viertgrößte Stadt Kaliforniens – nach Los Angeles, San Diego und San Jose. Auch beeindrucken viele der alteingesessenen Unternehmen im Bankenviertel von San Francisco mehr durch ihre Geschichte als durch ihre aktuelle wirtschaftliche Bedeutung: Dazu zählen beispielsweise die Bank of California sowie die Wells Fargo Bank , der dank des Goldrausches reich gewordene deutsche Jeanshersteller Levi Strauss & Co., die Tageszeitungen S. F. Examiner und S. F. Chronicle , das älteste Seafood-Restaurant der Stadt Tadich-Grill , sowie die Brauerei Anchor Steam Beer und die Ghiradelli Chocolate Company .
Wenige Minuten später stehe ich vor dem Gebäude meines Arbeitgebers. Wir entwickeln Software für Medizintechnik, zum Beispiel Geräte, die Körperfunktionen wie den Blutdruck, Puls und Körpertemperatur überwachen, und meine Aufgabe wird es sein, den Marktausbau in Amerika zu unterstützen. Im dritten Stock trete ich vor eine große breite Glastür. Durch die Mischung aus Glas, Backstein und Holz sieht das Büro gemütlich und einladend aus, viel moderner wirkt es als das Office in unserer deutschen Zentrale.
Katie, die Assistentin, heißt mich herzlich willkommen: „Hanni, schön, dich kennenzulernen.“ Ich bin aufgeregt, aber sie macht einen relaxten Eindruck. „Nimm doch Platz“, fordert sie mich freundlich auf. Katie trägt Jeans und einen weiten blauen Pulli. Ihre dunklen Haare, durch die sich bereits einige graue Strähnen ziehen, hat sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. „Ich stelle dich gleich den Kollegen vor. Doch zuvor möchte ich einige administrative Dinge besprechen“,flötet sie und schlägt eine große Informationsmappe mit der Aufschrift
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