Ein Jahr in San Francisco
Arbeit, um zusammen eine Kleinigkeit zu essen. Wir verstanden uns auf Anhieb prächtig und haben seitdem regelmäßig etwas unternommen. In den letzten Wochen besuchten wir gemeinsam Cafés, Restaurants und Bars, haben an Networking-Events teilgenommen und neue Bekanntschaften gemacht.
Neben ihrem Beruf als Schriftstellerin und Journalistin arbeitet Mari Carmen als Freiwillige in 826 Valencia , einer gemeinnützigen Organisation, die von einem Schriftsteller gegründet wurde und Schreibkurse für Schulkinder anbietet.Finanziert wird diese Schreibwerkstatt durch Einnahmen aus einem angeschlossenen Laden für Piratenbedarf, in dem Kinder Augenklappen und Holzschwerter kaufen können. Mari Carmen wollte Piratengeschichten vorlesen, hatte jedoch vergessen, die notwendigen Bücher aus der Bibliothek am Civic Center abzuholen. „Es wäre super, wenn du es in der nächsten halben Stunde schaffst, weil der Kurs gleich schon anfängt. Muchas gracias“, übergab sie den Auftrag per Notfall-SMS an mich. Mit dem Vorsatz, eine gute Freundin zu sein, stieg ich auf mein Fahrrad und raste durch das Tenderloin in Richtung Bücherei. Leider erwischte mich die rote Welle, und beim nächsten Ampelstopp wurde ich von einem Obdachlosen mit einem Stück Käse-Donut beworfen. Nassgeschwitzt und samt Frischkäsefleck auf dem Pulli kam ich wenig später am Civic Center an. Ich ärgerte mich, dass ich es noch immer nicht geschafft hatte, mir das pompöse, dem Petersdom in Rom nachempfundene Rathaus gegenüber der Bibliothek anzuschauen. Hier soll schon Marilyn Monroe ihren DiMaggio geheiratet haben. Aber jetzt hatte ich anderes zu tun. Schnell suchte ich die Bücher zusammen und stellte mich in die Warteschlange am Checkout-Schalter. „Du interessierst dich für Piraten?“, fragte plötzlich jemand neben mir. Ich drehte mich um: Ein sympathisch aussehender, sportlich gekleideter junger Typ mit wuscheligem dunklen Haar stand vor mir und betrachtete das oberste Buch auf meinem Arm, das den Titel „Piratengeschichten und andere Abenteuer“ trug. „Das ist für eine Freundin“, entfuhr es mir fast entschuldigend, dann kam ich an die Reihe. Als ich schließlich mit dem dicken Bücherstapel auf dem Arm aus der Bibliothek eilte, stand ich vor einem leeren Fahrradständer. Mein Rad war weg – verdammt! In diesem Moment kam auch noch der Typ, der hinter mir in der Schlange gestanden hatte, aus der Bibliothek heraus und nickte mir lächelnd zu. Ich muss wohl so hilflosausgesehen haben, dass er fragte: „Are you okay?“ Ich klagte ihm mein Leid, gab mich ein bisschen unbeholfen und setzte meinen besten Hundeblick auf, bis er schließlich von sich aus anbot, mich in der Valencia Street abzusetzen. Ich weiß auch nicht genau, wie es kam, jedenfalls verbreitete er auf der kurzen Fahrt so viel vertrauenerweckenden Charme, dass er, als ich aus dem Auto sprang, über meine E-Mail-Adresse und Handynummer verfügte. Und ein paar Tage später las ich zufällig in meinem Postfach:
„Hi Hanni,
es war schön, dich kennengelernt zu haben – ärgere dich nicht so wegen des Fahrrades. Kalifornien muss man locker nehmen! Hast du Lust auf einen Drink im Bourbon & Branch am nächsten Wochenende?
Cheers,
Nick“
Yeah, Strike! Dass es mit dem ersten Date so schnell gehen würde, hatte ich nicht erwartet. Die Bar, deren dunkles Holzinterieur mich an die Hogwarts-Bibliothek im Harry-Potter-Film erinnerte, war ein Geheimtipp und nur mit einem Passwort begehbar. An der Tür der Flüsterkneipe wisperte Nick dem Türsteher geheimnisvoll das Codewort „Books“ zu, und wir bekamen einen Ecktisch, an dem wir uns gut unterhalten konnten. Nach dem dritten Cocktail war meine Aufregung verflogen, ebenso die Erinnerung an die Dating-Grundregeln, die Mari Carmen mir vorher extra mit auf den Weg gegeben hatte („Erstens: Rede nicht zu viel! Zweitens: Er muss nach dem zweiten Date fragen! Drittens – und das ist auch die wichtigste Regel: Sex frühestens ab dem dritten Date!“). Ich quatschte ohne Unterlass, und am Ende fragte ich ihn, ob er nicht Lust habe, mich und ein paar Bekannte auf die chinesische Neujahrsparade zu begleiten, die einigeTage später stattfinden sollte. „Klar, warum nicht. Ich war selbst noch nicht da“, meinte er. Ich freute mich, auch wenn ich bereits gegen zwei von Mari Carmens Regeln verstoßen hatte. Lediglich die dritte Regel konnte ich ehrenhaft einhalten, und Nick verabschiedete mich um Mitternacht mit einer Umarmung bei mir vor der
Weitere Kostenlose Bücher