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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Bayers
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von Schicksalsschlägen? Selten habe ich mich so als Fremdling gefühlt, verloren inmitten eines Freak-Theaters. Und anscheinend bin ich die Einzige, die dieses Schauspiel irritiert oder verwundert. Ob der Alltag hier so aussieht? Das passt so gar nicht zu dem Bild, das mein Reiseführer in meinem Kopf gezeichnet hatte: morgens über die Golden Gate Bridge radeln, mittags am Ferry Building im Fischrestaurant lunchen und abends mit den historischen Trambahnen die Hügel der Stadt erklimmen. Wo sind sie: die Cable Cars, die mit ihrem ratternden Charme längst vergessener Zeiten an einem vorbeiziehen und wie kleine Perlen auf einer Murmelbahn durch das hügelige San Francisco ruckeln? Fast ein wenig wütend denke ich an die Zeilen „to be where little cable cars climb halfway to the stars“, die Tony Bennett so schwärmerisch von seiner Stadt an der Bay gesungen hat. Es fällt mir schwer, diese Postkartenidylle für möglich zu halten.
    Dann erscheint endlich meine Wartenummer auf dem Display an der Wand. Ich erledige hastig den Papierkram, und die freundliche Beamtin stellt mir meine Unterlagen aus. „There you go, sweetie.“ Mit dem Hinweis, dass ich meine Nummer in den nächsten Tagen per Post erhalten werde, reicht sie mir die Dokumente. Schnell verlasse ich das Amt und empfinde tiefe Bewunderung für die Beamtin, die trotzdes täglichen Chaos so gelassen bleiben kann – und Erleichterung, dass ich die Sozialversicherungsnummer nicht persönlich abholen muss.
    Zurück im Büro erzählt mir Katie, dass San Francisco eine der höchsten Obdachlosenraten der USA hat und über 6000 Menschen auf der Straße leben – viele davon in Tenderloin und in Teilen von SoMa („South of Market“) rund um die 6 th Street. „Die hohe Armenquote hat mehrere Gründe“, rechtfertigt sie ihre Stadt. „San Francisco hat eine Tradition als Anlaufstelle für Lebenskünstler aller Art. Hippie- und Drogenkultur prägen seit den Sechzigerjahren das Stadtbild. Außerdem kommen unzählige Obdachlose aus anderen Staaten der USA hierher, weil es in San Francisco mehr soziale Programme gibt als in anderen Städten. Beispielsweise die tägliche Essensausgabe der San Francisco Food Bank oder die Food Runners , die Essensreste von Restaurants, Supermärkten und Privathaushalten zu Bedürftigen bringen.“ Daneben spielen auch politische und wirtschaftliche Faktoren eine Rolle. Mit der sogenannten Welfare-Reform unter Clinton im Jahr 1996 wurde der Anspruch auf Sozialhilfe auf maximal fünf Lebensjahre beschränkt. „Das brachte viele Menschen auf die Straße“, sagt sie niedergeschlagen. Weil San Francisco und das Silicon Valley zentraler Schauplatz des Dotcom-Booms, des Internet-Hypes der Neunzigerjahre, waren, erhöhten sich mit all den Yuppies und Internet-Millionären die Mieten um bis zu 500 Prozent. „Nur Manhattan ist teurer – das ist bis heute so geblieben“, fügt sie hinzu, was mich hinsichtlich meiner bevorstehenden Wohnungssuche weniger amüsiert. „So konnten sich mit dem Dotcom-Boom plötzlich viele keine Wohnung mehr leisten, denn mit circa 350 Dollar Sozialhilfe blieb für unzählige Leute die Miete einfach unbezahlbar. – But take it easy – you should be fine“, ergänzt sie dann unbesorgt und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu.
    Nachdem ich mich die ersten Tage in den neuen Job eingewöhnt, die ersten Telefonkonferenzen mit den amerikanischen Geschäftspartnern überstanden und meine neuen Kollegen kennengelernt habe, plane ich am Freitag die Eröffnung meines amerikanischen Bankkontos. Zum Glück liegt die Bankfiliale, anders als das Social Security Office , direkt um die Ecke. „I would like to open a bank account“ – noch immer fühle ich mich in der englischen Sprache unsicher. „Sure, we will be with you shortly“, vertröstet mich die Dame hinter dem Schalter und bittet mich, in einer Ecke mit drei Ledersesseln Platz zu nehmen. Dort wartet bereits eine weitere junge Kundin. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen, eine knallrote Strumpfhose leuchtet mir entgegen. Genervt nippt sie an einer Tasse Kaffee und fährt sich durch ihr langes dunkles Haar. Ich setze mich ihr gegenüber und nicke ihr freundlich zu. „Nimm dir doch einen Kaffee. Du musst bestimmt auch ein bisschen warten“, sagt sie mit einem spanisch klingenden Akzent und zeigt auf eine Self-Service-Kaffeemaschine.
    „Ich bin Mari Carmen, ich komme aus Barcelona“, stellt sie sich vor. Erst vor wenigen Wochen sei sie in die Stadt gezogen.

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