Ein Jahr in San Francisco
„Hier ist so viel kreative Energie.“ Sie erzählt mir, dass sie bereits seit einigen Jahren an ihrer Karriere als Schriftstellerin arbeitet. In San Francisco hofft sie endlich auf den großen Durchbruch. Sie redet wie ein Wasserfall, was meinem Bild eines zurückgezogen lebenden Autors nicht gerade entspricht, aber es macht Spaß, ihr zuzuhören, und Mari Carmen ist mir mit ihrer direkten Art auf Anhieb sympathisch. „Ich freue mich immer, Europäer kennenzulernen. Ich habe schon so einige Deutsche, Italiener und Spanier hier getroffen“, plaudert sie drauflos, und eine lockige Haarsträhne fällt in ihr schmales Gesicht. „Irgendetwas muss die Stadt haben, was uns Europäer anlockt“, sage ich. Sie nippt an ihrem Kaffee. „Ja, das liegt an der europäischen
joie de vivre : gutes Essen, hochwertiger Wein und die Natur geradewegs vor der Tür. Was willst du mehr?“ Mit Genugtuung stelle ich fest, dass es hier laut Mari Carmen doch mehr als nur Armut und Verrücktheit gibt.
In meinem Reiseführer hieß es: San Francisco hat viele Facetten. Es ist stolz auf sein spanisches Blut, liebt französisches Essen, trinkt gerne italienischen Wein, spricht fließend Chinesisch und entspannt im Stil der Japaner. Das Armenviertel haben sie offensichtlich ausgespart. „Du findest in Francisco immer das, was du suchst“, sagt Mari Carmen und streckt ihre langen Beine entspannt aus. Im selben Moment kommt die Bankangestellte, um Mari Carmen ins Besprechungszimmer zu bitten. Bevor meine neue Bekanntschaft entschwindet, reiche ich ihr schnell meine neue Visitenkarte. „Yes, let’s hang out together“, lacht sie. „Das meine ich ernst. Ich würde mich freuen.“ Es dauert nicht lange und die Dame vom Schalter wendet sich auch an mich: „Miss? Ich habe nun Zeit für Sie.“ Ein paar Formulare und Unterschriften später bin ich stolze Besitzerin eines amerikanischen Bankkontos und einer Kreditkarte. Mein American Dream kann kommen, ich bin bereit.
Streifzug:
Verreisen Sie im Kopf!
Gehen Sie mit Filmen und Büchern auf Erkundungstour durch San Francisco: Der Filmklassiker „Harold and Maude“ mit Ruth Gordon und Bud Cort (USA 1971) spielt unweit von San Francisco und beschreibt das verträumte Lebensgefühl der Sechzigerjahre. Falls Sie sich mit Action vorbereiten wollen, heizen Sie doch mit Steve McQueen im Film „Bullitt“ über die Hügel der Stadt und lassen Sie den Tag bei einem Bier in der gleichnamigen Bar auf der Polk Street ausklingen. Sollten Ihnen Verfolgungsjagden zu langweilig sein, können Sie auch in „Star Trek IV – Zurück in die Gegenwart“ in einem Raumschiff im Golden Gate Park landen oder mit Michael Douglas in „Basic Instinct“ einen Mord aufklären. Wenn Sie Bücher bevorzugen und San Francisco gemeinsam mit dem Privatdetektiv Sam Spade entdecken wollen, lesen Sie den Klassiker „The Maltese Falcon“ von Dashiell Hammett, zu dem es auch einen Film gibt. Unterschiedliche Reiseerfahrungen zu San Francisco finden Sie in „San Francisco Stories. Great Writers on the City“ vom Herausgeber John Miller. Darin schildern Autoren wie Dylan Thomas, Jack Kerouac und Mark Twain ihre ganz eigenen Eindrücke der Stadt an der Bay. Lesenswert ist auch „On The Road“ von Jack Kerouac. Der Roman ist ein Klassiker der amerikanischen Kulturgeschichte und ein Manifest der Beatniks , einer Strömung der Nachkriegsliteratur. Zu den bereits erwähnten „Stadtgeschichten“ hat Armistead Maupin auch einen Fortsetzungsroman einige Jahrzehnte später geschrieben: „Michael Tolliver Lives“.
„You wouldn’t think such a place as San Francisco could exist. The wonderful sunlight here, the hills, the great bridges, the Pacific at your shoes. Beautiful Chinatown. Every race in the world. The sardine fleets sailing out. The little cable-cars whizzing down The City hills … And all the people are open and friendly.“
D YLAN T HOMAS , BRITISCHER P OET
Februar
Schatztruhe der Kulturen
Wartend stehe ich im Hauseingang unseres Apartmentkomplexes, während Passanten mit Regenschirmen, Gummistiefeln und dicken Jacken an mir vorbeigehen. Ich friere nicht, trotz des Pazifikwindes, ich bin einfach viel zu aufgeregt. Denn ich warte auf meine erste amerikanische Bekanntschaft. Nick heißt er, und ich habe ihn Ende Januar dank meiner neuen spanischen Freundin Mari Carmen kennengelernt.
Doch vielleicht besser von vorne: Wenige Tage, nachdem ich Mari Carmen in der Bankfiliale begegnet war, trafen wir uns nach der
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