Ein Jahr in San Francisco
coolsten, dass im Silicon Valley auch mal getanzt wird – da vermisse ich Bollywood gar nicht.“ Damit deutet er die Tanzeinlagen an, die ein paar verrückte Entwickler beim letzten Networking-Event hingelegt haben, um die Menge mitzureißen. „Die Amerikaner mögen eben die Show“, sagt Sophia selbstironisch und fängt mit dem Oberkörper an zu wackeln. Ich drehe die Musik lauter. Noch vor einigen Monaten saß ich auf der Rückbank und hatte mir gewünscht, auch einmal selbst zu fahren. Nun kann ich es endlich – und trete aufs Gaspedal!Nachdem wir Vijay zu Hause abgesetzt haben, fahren wir beim nächsten Supermarkt vorbei und kaufen Eierpunsch – das vorweihnachtliche Pendant zum deutschen Glühwein. Sophia ist noch bis morgen zum ersten Advent bei mir. Für heute Abend haben sich Mari Carmen und Rose angekündigt. Ein weihnachtlicher Mädelsabend steht an! Bis sie eintrudeln backen wir gemeinsam Plätzchen, und Sophia erzählt mir von ihrem jüdischen Chanukka-Brauch, dem Fest, das sie mit ihrer Familie – zeitgleich mit unserem Weihnachtsfest – zum Gedenken an die Wiedereinweihung des Serubbabelischen Tempels feiert. Und wieder muss ich an das Bild von San Francisco als einer riesengroßen kulturellen Schatztruhe denken. Wie oft habe ich schon in diese geheimnisvolle Kiste gegriffen und dabei erfahren, wie die Chinesen ihr Neujahrsfest, die Mexikaner ihre Toten oder die Iren ihre Heiligen feiern.
Doch die Zeit zum Sinnieren ist knapp. Schon klingelt es, und Rose und Mari Carmen stehen vor der Tür. „Ich brauche dringend einen Drink!“ Mari Carmen schlüpft aus ihren extravaganten rot-braunen Fell-Pumps und wirft sie achtlos in den Flur. „Wieso, was ist los?“, frage ich. „Ich habe heute schon wieder zwei Absagen für mein Buchexposé erhalten. Der dumme Durchbruch als Bestsellerautor dauert länger als erwartet. Shit!“ – „Sweetie, don’t worry. Come and have some eggnog. It’s Christmas time!“, ruft Sophia von der Couch aus. Und so trinken wir Eierpunsch, essen Plätzchen und ich zwinge mich, in Weihnachtsstimmung zu kommen. Das ist jedoch gar nicht so einfach, wie ich gedacht habe, wenn man am gleichen Tag bei zwanzig Grad im Schatten durch das sonnige Palo Alto gefahren ist. Die dritte Runde Eierpunsch will Sophia dann auf die Liebe trinken, sie hat einen neuen Typen an der Angel. „No, let’s raise the glass and toast to happy holidays“, protestiert Rose. „To our friendship“, schlage ich vor underhebe mein Glas. Die Liebe kann mir gerade gestohlen bleiben.
In den letzten Wochen habe ich mich strikt an die Empfehlungen von Mari Carmens „Forget-the-guy-Programm“ gehalten. Einer der Vorschläge lautet, sich mit anderen Männern abzulenken, was ich auch prompt versucht habe. Doch die Herren haben sich als Reinfälle entpuppt: Vor sechs Wochen hatte ich einen nächtlichen Ausflug auf ein etwas in die Jahre gekommenes Hausboot in Sausalito – mit einem Typen, der erst einen vielversprechenden Eindruck machte: Er redete unheimlich schlau daher, sah so aus, als ob er gut küssen könne, und fuhr mich auf seinem Motorrad zum Boot. Dann jedoch verkorkste er mir die Nacht mit seinen Räucherstäbchen und seinen völlig vernebelten philosophischen Ansichten so sehr, dass ich heilfroh war, im ersten Morgengrauen wieder an Land zu kommen. Reinfall Nummer zwei war ein junger Internetkapitän, den mir Mari-Carmen in einer Bar in der Marina vorstellte. Sicherlich konnte er bei Mari-Carmen nicht landen, und sie reichte ihn weiter. Er lud mich auf einen Drink ein und versuchte mir dann drei Stunden mit seinen neuesten Apps und seinen Erfolgsgeschichten zu imponieren. Irgendwann war mein Alkoholpegel wieder so stark gesunken war, dass ich von ganz alleine nach Hause ging. Alleine! Zu guter Letzt Reinfall Nummer drei: ein Surfer, den ich bei einer Dachterrassen-Party im Medjool in der Mission kennenlernte. Wir tanzten, bis der Laden dichtmachte, dann folgte er mir nach Hause. Dort kam er auf die glorreiche Idee, einen Joint zu rauchen. Wahrscheinlich hätte mich der Gesundheitsapostel Charles umgebracht, wäre er zu Hause gewesen. War er aber nicht, und so wollte ich es einfach einmal probieren. Wir kicherten, flirteten und rauchten, beziehungsweise er rauchte – ich hustete nur. Schließlich musste ich feststellen, dass ich nicht auf Lunge rauchen konnte. „Noproblem, honey“, sagte er, verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einem warmen Kakao, dem cannabis cacao , wieder
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