Ein Jahr in Stockholm
einen etwas wunderlichen natürlich. Ernst-Hugo fährt mir davon, doch kurz darauf hat Sheherazade ein Einsehen, und so quetsche ich mich im abendlichen Berufsverkehr zwischen die Hauptstädter. Dieser Menschenpulk scheint die sonst eher reserviertenStockholmer aber keineswegs daran zu hindern, sich lautstark mit dem Handy über die privatesten Erlebnisse zu unterhalten.
„Petter hat sich gestern mit mir verlobt“, orte ich von hinten: „Das war super! Also wir saßen da am offenen Kamin im Haus seiner Eltern auf dem Bärenfell, voll romantisch, und da zieht er mich zu sich hin …“ Manches muss man für den Vorteil, überall besten Empfang zu haben, in Kauf nehmen.
Doch auch wer ohne Telefon unterwegs ist, scheint sein Umfeld auszublenden. Eine Frau schminkt sich ungeniert die Augen und pudert das Gesicht so dicht vor dem aller anderen, dass ich sehe, wie es ein Schwarm Staubpartikel in den Mund ihres Nachbarn schafft. Ich ziehe dezent meinen Schal nach oben, doch leider entgeht mir dadurch nicht, wie jemand weiter weg seine Fingernägel klipst. Ich hoffe zumindest, es handelt sich um die Fingernägel. Ich danke dem Königreich, als mich die t-bana am Medborgarplatsen ausspuckt, und suche eilig den Ausgang über Björns trädgård .
Das ehemalige Arbeiterquartier Södermalm hat eine völlig andere Note als mein Nobelviertel Östermalm. Zwar wohnen auch hier mittlerweile eher die Reichen, doch die Häuser an der Ecke Tjärhovsgatan/Götgatan sind nicht besonders schön und keinesfalls mit so filigranen Verzierungen oder prächtigen Eingängen wie um die Skeppargatan bestückt. Sie sind hoch und grau und tragen seltsame Muster – vermutlich Verbrechen aus den Siebzigern. Nach Söder, wie die Hiesigen sagen, muss man tiefer eindringen, um seinem Charme zu erliegen.
Dafür habe ich momentan keine Zeit. Ich laufe eine steile Treppe hinauf zur Moschee und über den Friedhof um die Katarina kyrkan mit viel Wiese und winzigen Grabsteinen, über die hinweg ein altes Paar Frisbee spielt; daneben picknicken junge Leute. Ich denke, ich sehe nicht recht, aber auch bei prüfendem Blick zurück ändert sich das Bild nicht.
Etwas zu spät erreiche ich den Hügel, der sich Sandbacksgatan nennt und wo ein Kindergarten für Ein- bis Fünfjährige liegt. Halt, stimmt nicht ganz. Am Eingang lese ich, dass es sich um eine Vorschule handelt, die neben der Kinderbetreuung auch pädagogische Ziele mit eigenem Lehrplan verfolgt. Reine Kindergärten gibt es folglich seit gut zehn Jahren nicht mehr. Trotz allem: Hier soll ich Nadine, fünf Jahre, brauner Pony, Krokodilpulli, abholen. Ich bin beauftragt, Deutsch mit der Kleinen zu reden, damit erstens: ihre Mama Matilda länger arbeiten kann und zweitens: Nadine im Herbst wie ihre Schwester Pollie an der Deutschen Schule in Stockholm angenommen wird.
Ich identifiziere Nadine an einer Spielkiste, und sie scheint auch zu ahnen, wer ich bin. Jedenfalls flitzt sie ins Nebenzimmer, in dem allerhand Verkleidungen an Garderobenhaken hängen, und versteckt sich hinter einem plüschenen Königsumhang. Ich knie mich davor. „ Hej , Nadine. Schön dich kennenzulernen. Mama schickt mich, um dich nach Hause zu begleiten. Was meinst du: Wollen wir los?“, frage ich durch das ramponierte Hermelin-Imitat, das mich unschön an den Ballermann-Onkel Jürgen Drews erinnert. „Du bist nicht meine Mama!“ Unter dem Umhang stampft ein Gummistiefel aufs Laminat.
Nach einer längeren Diskussion ist Nadine halbwegs bereit, mit mir den Heimweg anzutreten. Reden will sie aber nicht. Weder auf Deutsch noch auf Schwedisch. Ich wünsche Lars die Pocken.
Zumindest die Gegend wird immer interessanter. Wir schlendern vorbei an jeder Menge schräger Cafés, kleiner Boutiquen, Secondhand-Geschäften und Musik-Läden aus einer anderen Zeit. Wir sind ins SoFo eingetaucht, das Szeneviertel Södermalms. SoFo ist – in Anlehnung an den Stadtteil SoHo in New York – ein Akronym für South of Folkungagatan . Im Osten ist es durch die Erstagatan begrenzt, im Südendurch den Ringvägen und im Westen durch die Götgatan, die Hauptschlagader der Insel.
Ich begebe mich gern und oft in dieses Wabern aus alternativer Kunst-, Musik- und Club-Kultur. Wie Berlin mittlerweile sein Friedrichshain hat, München Haidhausen, Dresden die Neustadt und Wien den Spittelberg, hat Stockholm sein noch viel abgedrehteres SoFo . Um mich herum sind Männer gekleidet wie Nena in ihren Anfangsjahren, Frauen lassen sich in Schaufenstern
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