Ein Jahr in Stockholm
Upp-sa-la-la-la, Upp-sa-la-la-la“, das den Namen der Stadt auf der ersten statt auf der zweiten Silbe betont, aber egal. Deutschsprachige Austauschstudenten in unserer Nähe stimmen ein, die Schweden lachen, und da kommt auch schon ein selbstgebautes Styroporfloß den Fyrisån herunter. Das forsränning , eine Art Rafting, beginnt.
Studenten versuchen, ihren schwimmenden Hotdog im Ganzen über einen Wasserfall zu bringen und gleichzeitig ihre Kollegen nebenan von den Booten zu stoßen. Auch das Publikum hilft mit: Neben uns hechten Männer ins Wasser,um sich über einen Styropor-Elch herzumachen, der beim ersten Ruckeln mit seinen drei Reitern kentert. Eine Dose surströmming (vergorener Ostseehering) kommt vorbei, ein Einkaufskorb der Supermarktkette Ica , Männer mit aufgeschnallten Plastikhintern, Familie Simpson und – mein Favorit – eine umgekippte Kuh, für die vier Frauen pinkfarbene Fahrradhelme tragen und damit in ihrem rosa Schiff ein Euter bilden. Am lautesten wird geschrieen und applaudiert, wenn Boote und Besatzung im Wasserfall untergehen, kurz darauf Styroporbrocken an die Oberfläche drängen und stromabwärts gleiten.
Als hunderte Plastikenten an uns vorbeischwimmen – das Zeichen, dass kein Boot mehr kommt –, treffen wir uns mit Caros Freundin Anna, die sie in ihrer Au-pair-Zeit in der Schweiz kennengelernt hatte, und schlendern durch die Stadt. An jedem Eck verausgaben sich Singchöre und Musikkapellen; auch die Geschäfte haben geöffnet. Überall Menschen, Eis, Sonnenbrillen. Flaggen, Mikrofone, Kameras. Trompeten, Erdbeeren, Sektkorken. Auf Slottsbacken , dem steilen Hügel vor einem roséfarben gestrichenen Schloss, lassen wir uns an einer Baumgruppe nieder, und ich werde vor lauter Gastfreundlichkeit wieder einmal dazu genötigt, Hering zu essen, da es ohne diesen silllunch eben einfach kein Walpurgis wäre. Mit viel Aquavit ist die Überwindung gar nicht einmal so groß.
Kurz vor drei werden die meisten nüchtern, gerade rechtzeitig. Wir müssen rauf zur Unibibliothek Carolina Rediviva, denn gleich schwenkt der Unirektor seine Studentenmütze auf dem Balkon, Studenten winken mit ihren Mützen zurück, und mit diesem doch ziemlich unspektakulären Wedeln, dem mösspåtagning , begrüßen sie alle den Frühling. Anna fragt uns, ob wir nun zum Feiern mitkommen, und wir fragen uns, was wir denn bisher gemacht haben. Das Trinken beginne erst jetzt in den nationen , die so etwas wieStudentenverbindungen darstellen, erklärt sie. Caro und ich wägen ab, erinnern uns aber, dass für den Abend noch ein bisschen Kultur ansteht, und machen uns auf den Heimweg.
Der Alltag in Stockholm ist aufregend und bleibt dies immerzu. Das sagen wir Zugezogenen, das sagen auch die Einheimischen. Geburtstagsfeste werden überblendet von Segeltörns, Demonstrationen und Jazzfestivals. In die Ministerkonferenzen mischt sich das Knattern der Bootsmotoren, der Techno der Tanzflächen und Stimmengewirr aus den Straßencafés. Ich bin in einer nimmermüden Stadt gelandet, die mir in den Beinen steckt und den Kopf verdreht. Die Angebote, die sie mir unterbreitet, sind fantastisch, aber oft sehr anstrengend. Da ist es eine Wohltat, den Monat besinnlich ausklingen zu lassen. Wir gehen zum Maifeuer.
Es nieselt, das Pflaster ist rutschig und die Sicht trüb, als wir abends gegen halb neun die engen Gassen von Gamla stan zum Hauptplatz, dem Stortorget , hinaufsteigen. In der petroleumgetränkten Luft warten hunderte Menschen, die sich über ihre Fackeln gegenseitig Feuer geben. Ein Fremder sagt, wie schön es sei, uns zu sehen, und reicht uns zwei Brennstäbe. Bald sortiert sich die Menge zu einem Zug, der sich unter afrikanischem Getrommel den Weg zu Evert Taubes terrass bahnt, die nach dem bekannten Troubadour benannt ist. Dort am Ufer, mit grandioser Aussicht auf Kungsholmen und das beleuchtete stadshuset , wo ich Bo traf, ohne es zu wissen, wartet ein Vielfaches an Leuten. Sie klatschen im Rhythmus oder mischen sich für die letzten Meter in die Gruppendynamik unserer Lichterkette.
Die Fackeln werden gesammelt und brennen in aufgeschichteten Sandhaufen aus, was Spiegelreflexe in den Ostseeausläufer wirft. Goldenes Licht durchdringt scheibchenweise den Nebel, was den Himmel über Riddarholmen so fleckig macht wie einen Russischen Zupfkuchen. Einmagischer Moment. Ich bin zum ersten Mal von einem Naturerlebnis derart bewegt, dass ich Gänsehaut bekomme, und als Caro flüstert: „Maifeuer sind echt das
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