Ein Jahr in Stockholm
derweil einen Stapel Papier aus ihrem Reisesack; es handelt sich um Bengts neueste Horror-Kurzgeschichte. Die überreicht sie an Caro und mich, an die sechs Zugbediensteten und schließlich an alle Wochenendausflügler im Großraumabteil, wobei sie immer etwas vom baldigen Durchbruch murmelt und dabei demonstrativ auf unsere Sitzgruppe deutet. Derartige Aktionen meiner Vermieterhatte ich einkalkuliert und mir eine sehr große Tageszeitung besorgt. Jetzt ist der Moment, sie aufzufalten.
Was ich lese, ist abgespaced. Die Schweden wollen eins ihrer falunroten Holzhäuser auf den Mond schießen. Der Multikünstler Mikael Genberg geht fest davon aus, dass es um das Jahr 2012 so weit sein wird. Mit der Raumfahrtbehörde, Ministern, Industriebossen und Schwedens erstem Astronauten Christer Fuglesang will er den „allgemeinen Mangel an Verrücktheit“ beseitigen. Vielleicht sollte er erst mal mit Gunilla und Bengt in den Urlaub fahren. Mangel an Verrücktheit! Mit dem Argument würde er es in Deutschland zu Raab oder Beckmann schaffen, aber sicher nicht zum Ziel. Doch die experimentierfreudigen, visionären Schweden sind ganz versessen auf Genbergs durchgestylten Plan zum zehn Quadratmeter großen Nationalsymbol, das bereits aus ultraleichtem Material zusammengestöpselt wurde. All-tauglich sozusagen.
Genberg liebt die Kombination von Schwedenhütte und alternativem Wohnmilieu. Probehalber platzierte er die Mondhütte für einige Monate schräg auf dem Stockholmer Globen. In dreizehn Metern Höhe des Vasaparken von Västerås und inmitten der Baumkronen findet sich zudem sein Hotell Hackspett (Specht), für das kein einziger Nagel in die Rinde geschlagen werden musste. Auf dem Mälaren-See können sich Gäste des Hotell Utter Inn (Fischotter) auf einer Art schwimmenden Dachterrasse mitternachtssonnen, bevor es drei Meter unter der Wasseroberfläche zwischen Panoramafenstern in die Heia geht. Im Café Koala an Schwedens Ostküste und in Rio de Janeiro genießt man die fika gerne auf fünf Meter hohen Stühlen. Und für manch einen mag Genbergs Toilettenhäuschen ein Genuss sein, in dem er das Treiben draußen verfolgen kann, während die Sicht nach drinnen gottlob verspiegelt ist.
Wie auf Kommando fliegen nun vor dem Zugfenster die ersten Schwedenhäuser vorbei, hinterher kommen Schafe auf saftigen Wiesen, Seen, die mal Tümpeln gleichen und mal bis hinter den Horizont reichen, unvergleichlich bauchige Wolken, die vom hellen Himmel hängen wie überreife Früchte. Heile Welt. Dieses idealisierte Bild, das der Deutsche gemeinhin mit Schweden verbindet, nennen die Schweden bullerbysyndromet , das Bullerbü-Syndrom. Das Goethe-Institut hat den Begriff in Anlehnung an Astrid Lindgrens Geschichten geprägt. Irgendwie scheint die ähnliche Kultur dem Traum von einem besseren Deutschland zu entsprechen – oder, wie Anders es einmal beschrieb: Schweden ist Deutschland minus die Weltkriege und ihre Folgen.
Als wir in Smedjebacken ankommen, beginnt es zu dämmern. Nach zehn Uhr abends sollte das erlaubt sein. Vorbei sind die langen dunklen Wintermonate. Und mit dem Minimum von sechs Lichtstunden in Stockholm waren wir noch richtig gut bedient, sagt Gunillas Bekannte, die uns mit dem Auto vom Bahnhof abholt. „Bei uns war es deutlich kälter bei vielleicht vier Stunden, die wir das Gefühl von Tag hatten. Aber weil wir nördlicher liegen, wird es momentan mitten in der Nacht schon wieder hell. Völlig normal. Ihr werdet es lieben.“
Natürlich ist auch Gunillas Ferienhaus rot. Wir steigen aus und sehen uns auf dem Gelände um. Alle Fensterläden sind weiß lackiert, eine Veranda ist überdacht, aber zu allen Seiten hin offen, eine andere für schlechte Tage komplett verglast. Die sommarstuga steht in der Mitte eines großen Anwesens. Rundherum reihen sich kleinere, optisch ähnliche Bauten; in manchen befinden sich Betten, in anderen Duschen, Gartengeräte, Fahrräder und Spielzeug sowie ein Plumpsklo, dessen Dämpfe sich in einem Umkreis von zwanzig Metern stauen. Wer hier nicht scheitern will, muss planen: die Luft schon in der Ferne anhalten, sich nicht von den Fliegenirritieren lassen und nicht über die Stufen hinaufstolpern, sonst riskiert man eine Landung im Korb mit dem benutzten Toilettenpapier. Das wiederum darf keinesfalls in die Schüssel. Das Allerwichtigste ist, nicht versehentlich in diese Schüssel zu blicken, wo ein Rührgerät die natürlichen Abfallprodukte des Menschen gut sichtbar zu einer Konsistenz
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