Ein Jahr in Stockholm
vermengt. Muss man nicht weiter vertiefen.
Caro und ich bekommen ein eigenes Schwedenhäuschen, so groß wie die Mond- stuga und eingerichtet wie eine Puppenstube. In den Regalen finden wir neben den Psychologiebüchern von Gunilla und den Horrorgeschichten von Bengt mehrere Kriminalbände von Gunillas Mann Gustav aus den Sechzigerjahren. Ich fliege über die ersten Seiten, wo es gleich blutrünstig zur Sache geht; so liebt der Schwede seinen Krimi. Doch ich fantasiere mir hier, mitten in der Natur mit unbekannten Geräuschen und ohne Straßenlaternen, zu schnell etwas zusammen. Dabei ist vor dem Fenster nur die Dunkelheit. Problemlos kann ich Karlavagnen , den Großen Bären, und die Nördliche Krone erkennen, an einem Himmel, der näher und klarer wirkt als an jedem anderen Ort. Mit seinen Sternen sieht er aus wie eine Schatulle, in der massenhaft Schmucksteine funkeln. Schön kitschig. Von der Schriftstellerfamilie ist nichts mehr zu sehen, der Mond hingegen pappt prall am Firmament – und so stellen wir uns vor, wir selbst befänden uns in Genbergs Uwo , wie wir sein ungewöhnliches Wohnobjekt taufen. Darüber, es gedanklich auszustaffieren, fallen wir in einen dermaßen tiefen Schlaf, dass man glauben könnte, übernatürliche Kräfte seien am Werk gewesen.
Es dürfte schon gegen neun Uhr morgens an die dreißig Grad haben. Die heiße Luft drückt gewaltig auf uns hernieder, als wir aus unserer Hütte klettern. Wir beschließen, unten am See zu frühstücken, wo die Chancen auf ein paarWindstöße gut stehen. Gunilla ist wach, döst aber in der Hängematte auf der Veranda und nimmt keine Notiz von uns, als wir über den Kies schlurfen und vor dem Grundstück auf einen Waldweg abbiegen, der von Birken und Pferdekoppeln gesäumt ist.
Die Nacht war wunderbar. Gegen drei war es bereits hell, weshalb wir uns mit einem Kaffee ins Gras gelegt und dabei zugesehen hatten, wie sich die ersten Blütenköpfe öffneten. Jetzt reflektiert das Wasser die schimmernden Sonnenstrahlen auf unsere Körper und überzieht sie mit Blattgold. Über den See blicken wir einige Kilometer in die Ferne, wo vier Kanuten paddeln. Sonst tut sich nichts. Wir schieben unser Obst und die geschmierten Brote zu Häufchen auf dem Steg zusammen, und es scheint geradewegs so, als konzipiere der Tag um uns herum die Atmosphäre eines leicht vergilbten Spielfilms aus den Siebzigern. Das warme Licht der Frühsommersonne verlangsamt den Puls und leitet ein Gefühl völliger Entspannung ein. Ich fühle mich wie im Freiluft-Sanatorium. Schließe die Augen, lausche den Vogelrufen aus den Baumwipfeln und spüre die behagliche Hitze, die über meine Haut kriecht – bis Caro sie mit einem Schwung kalten Wassers verscheucht. Sie hat einen Satz in den See gemacht, und ich bin ad hoc zu einer Schwimmrunde überredet.
Von weit draußen erkennen wir, wie Gunilla vom Haus herübergewandert ist, ans Ufer tritt und zaghaft ihre Füße ins Wasser hält. Wir winken, aber sie sieht uns nicht. Bis wir das Ufer erreichen, ist sie verschwunden. Dafür knackt es im Gebüsch, und kurz darauf läuft Bengt in seinem universalen Tages- und Schlafanzug und träskorna , den schwedischen Clogs, über den Holzsteg. Klack-klack-tock-tock. Das Getrampel reißt uns jäh aus der Stille. Zwei Eichhörnchen hüpfen in Panik hinter einen Steinhaufen.
Warum auch er nicht baden geht oder wenigstens den Weg nimmt, statt sich an moosigen Baumrindenvorbeizudrücken und durch Ameisenhaufen zu marschieren, kapiere ich nicht. Aber ich verkneife mir die Frage, als wir uns zu ihm setzen und ihn zum Frühstück einladen. Er sieht betrübt aus, wirft Kiesel, Gestrüppspitzen und ein paar unserer Weintrauben ins Wasser, bevor er mit der Sprache rausrückt. „Ihr seid sehr nett. Das sagt sogar Mama.“ – „Danke, danke. Ihr genauso.“ Caro will ihm auf die Sprünge helfen. „Ja, stimmt. Und deswegen habe ich mir überlegt, ich frage mal. Ein Freund, mit dem ich früher oft an diesem See war, hat jetzt eine Frau, drei Kinder und einen Hund.“ Ich erkundige mich, welchen Hund genau, aber Caro gibt mir zu verstehen, dass das jetzt nicht die elementare Frage ist. „Das ist gut, Bengt“, sagt sie: „Was wolltest du denn wissen?“ – „Vielleicht würde mich eine von euch heiraten?“
Ich pruste einen Apfelspalt ins Schilf. Caro schaut verstört drein. Bengt auch. Das Hundethema wäre wohl doch unverfänglicher gewesen. „Ich würde euch beide nehmen“, erklärt Bengt generös.
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