Ein Jahr in Stockholm
seine Gitarre vom Speicher geholt, um mir neue Trinklieder beizubringen. Darin veräppeln wir den Teufel und preisen meistens die Kartoffeln.
Heimlich verdünne ich meinen Birnenschnaps, und als Bertil schon auf Lotta schlummert, seiner Schlafcouch im Wohnzimmer, und so laut schnarcht, dass das Birkenlaub zittert, genieße ich weiter die gesellige Runde und den klaren Sternenhimmel.
september
Stockholm hält Sommerschlaf , und ich bin chronisch unterbeschäftigt. Um aber nicht in deutsche Jammerei abzugleiten, raffe ich mich frühmorgens auf und genehmige mir ein Frühstück im Café Valand an der Surbrunnsgatan, wo der Kaffee derart stark ist, dass ich den ausliegenden Stern schnell auslese und mich meinem eigentlichen Vorhaben widme: den Vorbereitungen für die Prüfung im Schwedischkurs Mitte Oktober. Was ich vorbereiten soll, weiß ich nicht so genau. Ich kenne nur den Bereich, über den wir in kleinen Gruppen je eine Stunde mündlich getestet werden: Gesundheit. Es wäre nicht schlecht, hatte Sverker gemeint, wenn wir Szenen beim Arzt, in der Apotheke und im Krankenhaus durchspielen würden.
Ich frage mich also, wo die nächste Apotheke liegt, suche im Stadtplan nach der Antwort und bitte eine fiktive Apothekerin um Hustensaft. Nebenbei stippe ich das Croissant in den Kaffee und durchkämme das Wörterbuch nach den wichtigsten Begriffen. Doch weit komme ich nicht. Am Nebentisch verhandelt Café-Besitzer Stellan mit einem Regisseur über die Drehzeiten in der Folgewoche. Das finde ich eindeutig spannender als meine plötzliche Blinddarmentzündung und einen komplizierten Knochenbruch.
Das Valand muss nicht selten als Kulisse für Kinofilme herhalten. Die trapezförmigen Regale, lehnenlosen Stühle, roten Lampenschirme und eine Leuchtreklame im Holzverschlag um mich herum versprühen den Charme der Fünfzigerjahre. In diesem Salon der Nostalgie mit Milch in Silberkännchen erlauben Jalousien an einer Trennwand, sich wiein alten Gangster- oder Polizeistreifen von ungebetenen Gästen abzuschotten. Glasklar, dass da die Produzenten bei Stellan anklopfen.
Der hat sich überreden lassen. Im Film wird er wieder kurz zu sehen sein. Die geplante Explosion hingegen ist gestorben. Das Café steht seit langem unter Denkmalschutz. „Da müsst ihr euch was anderes einfallen lassen“, sagt Stellan, zuckt mit den Schultern und klemmt sich wieder hinter seinen Tresen. Heute geht die Kundschaft vor.
„ Påtår? Soll ich dir nachfüllen?“, fragt er auf Deutsch in meine Richtung.
Ich schüttle den Kopf, mit Kaffee bin ich noch versorgt. „Aber vielleicht eine bulle mit extra Zimt?“ Ich spreche wie immer Schwedisch mit ihm. So wollen wir unsere Sprachkompetenz schulen. Ob Stellan mit mir auch über verstopfte Nebenhöhlen diskutieren möchte?
Auf jeden Fall verbringe ich die fika alles andere als allein. Mein E-Mail-Fach ist voll. Lars hat mir das Lied „Nothing Like You And I“ von den Perishers geschickt. Nordschwedischer Indie-Pop, der sich gut anhört und gut anfühlt. Dank Lars bin ich in Sachen Musik eine echte Schwedin geworden, die jeden zweiten Abend einem Konzert der wunderbaren Liedermacher und Gruppen aus dem Land von ABBA , Roxette und Zarah Leander beiwohnt. Anna Ternheim, Thåström, Laleh, Marit Bergman, Lykke Li, Kent und Annika Norlin (alias Säkert! sowie Hello Saferide ) sind nur einige, die mich auf den Bühnen der Stadt emotional umgeblasen haben. Stellan tanzt derweil vor der Kaffeemaschine zu Man Must Dance von Johnossi.
Schweden sind eine spezielle Spezies, was Musik angeht. Sie fördern die Künstler, indem sie pro Kopf mehr Musikaufnahmen kaufen als irgendeine andere Nation. Sie bringen Freude, wenn sie für andere Länder den Eurovision Song Contest gewinnen, wie etwa 2005 für Griechenland. Und siesind ungemein erfolgreich: Schweden ist die drittgrößte Musik-Exportnation der Welt (nach den USA und Großbritannien). Über diese Dimension war ich mir vor meiner Einreise nicht im Klaren. Musikalität liegt dem Volk in den Genen; an jeder Ecke und zu jeder Gelegenheit wird gesungen, und schon allein Rhythmus und Melodie der Sprache kreieren täglich neue Ouvertüren für meine Ohren.
Für die schmieden schwedische Komponisten und Produzenten leider auch den Elektro, der in den Clubs und Kaufhäusern rauf- und runterdudelt, Hitsongs wie Britney Spears’ „Baby One More Time“ und ähnlich nervige Arrangements für Madonna, Jennifer Lopez oder Take That. Doch davon einmal abgesehen,
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