Ein Jahr in Stockholm
zahlen sich die jugendorientierte Sozialpolitik, ein größtenteils englischsprachiges Fernsehen und die Neigung der Schweden, sich für Trends und Unbekanntes zu begeistern, aus. Spätestens seit Alfred Nobel sind Experimente hoch erwünscht.
Caro hat mir geschrieben, dass sie in zehn Tagen nach Kopenhagen fliegen wird, da sie in Malmö zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen ist. Oj då! Ob ich nicht Lust hätte, sie dort abzuholen und ein wenig ans Meer zu fahren? Das natürlich liebend gerne! Um vielleicht noch ein bisschen Geld rauszuschlagen, schreibe ich den Kollegen eines Münchner Hundemagazins, die sich oftmals für ungewöhnliche Geschichten begeistern können. Etwas verwundert öffne ich daraufhin die E-Mail aus einer Online-Redaktion, für die ich während des Studiums getextet hatte. Es ist – ein Jobangebot! Ein ziemlich gutes. Jemand gehe für ein Jahr in Mutterschaftsurlaub, heißt es, und ich sei richtig für den Posten. Falls ich Interesse hätte, müsste ich bis Weihnachten Bescheid geben. Sonst würde die Stelle offiziell ausgeschrieben.
Du liebes Bisschen! Meine Entspannung ist dahin. Neue Jobs für Caro und mich? Ach, was sage ich – völlig neue Leben bei Bedarf ! So ein Angebot darf ich nicht ablehnen, dasist klar. Aber aus Stockholm wegzugehen, ist undenkbar. Nein, das geht nicht. Oder doch? Wieder Kollegen und Trubel am Arbeitsplatz zu haben, statt allein in den Rechner zu tippen, lockt mich ungemein. Würde Caro die Stadt verlassen? Was soll ich tun?
Nach einem weiteren starken Kaffee und gutem Zureden von Stellan beschließe ich, Interesse zu bekunden. Sonst erzähle ich niemandem von meiner potenziellen Landflucht. Für Januar buche ich einen günstigen Flug, den ich zur Not sausen lassen oder für einen Besuch in der Heimat nutzen kann. Entscheidung vertagt.
Was für ein Vormittag! Mittlerweile liegt auch die Antwort des Hundemagazins vor. Solch unverfängliche Sachen, die Geld und Spaß, aber mein Leben nicht aus dem Tritt bringen, sind mir eindeutig lieber. Die Redakteurin schreibt mir ihren Themenvorschlag, der mit den Worten endet:
Bitte viele Bilder. Deadline 22. / Pauschale 300 €. Einverstanden?
Meine Reise ans Meer ist gesichert.
Auch dieser Nachmittag steht im Zeichen des Hundes. Mit der Rumpfbesetzung der dagis spaziere ich an den ausländischen Botschaften und der Südkante des Ladugårdsgärdet entlang, bis wir an Lilla Sjötullsbron , der kleinen Seezollbrücke, auf die Insel Djurgården wechseln. Die Skulpturen und Blockhausviertel an deren Ostufer sehe ich zum ersten Mal. Hunde sind großartige Stadtführer.
Wir sind gut drei Stunden unterwegs, als uns bei den Hagebuttensträuchern nahe der Manilla-Schule eine blau gekleidete Joggerin überholt, die ihren Jack Russell mit Halstuch und Leine farblich perfekt auf sich abgestimmt hat. Der mischt sogleich unsere Hunde auf. Es ist Kumpel Zorro, der die Tage zumeist in der dagis verbringt. In letzter Zeit stand er unter Hausarrest, da er seinen implantierten Kastrierchipverloren hatte und ständig versuchte, alles auf zwei bis vier Beinen zu begatten.
Ich erlebe derweil ein rätselhaftes Déjà-vu. Nach meiner peinlichen Ignoranz gegenüber Bürgermeister Bo hatte ich mir die Gesichter der Stockholmer Prominenz eingeprägt. Leider kann ich die Joggerin unter ihrer Baseballkappe nur schwer ausmachen. Dennoch glaube ich zu wissen, zu wem der blonde Pferdeschwanz und die hellen Augen im gebräunten Gesicht gehören. Die junge Dame selbst kündigt Annika an, den nun wieder kontrollierbaren Zorro ab Montag in die dagis zu geben.
„Ach, und könnte ihn einer von euch schon am Wochenende nehmen?“ Jetzt schaut sie endlich auch kurz zu mir: „Ich muss nach Australien.“ Annika lächelt und versichert, das sei überhaupt kein Problem. Dann spurtet die Unbekannte davon und der wuselige Zorro hinterher.
Als wir die in der Nachmittagswärme schnaufenden Hunde in die Ryssviken -Bucht zum Baden schicken, setze ich mich zu Annika auf die Felsen in der Böschung. Ich frage direkt, weil ich meine Neugier ohnehin nicht lange bremsen kann. Annika fühlt sich überrumpelt, blinzelt schweigend in die Sonne, bestätigt dann aber meinen Verdacht. Kronprinzessin Victorias kleine Schwester Madeleine macht gerne ausgedehnte Läufe über Djurgården. Allein und inkognito. Ich bin begeistert. „Aber psst!“ Annika legt den Zeigefinger auf den Mund. „Das mit der Prinzessin und uns ist eine sehr diskrete Sache, erzähl das nicht
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