Ein Jahr in Stockholm
Trockenen bleiben. Zumindest in der Theorie.
„Keine Ahnung, ob das wirklich funktioniert. Ist noch aus dem Zweiten Weltkrieg.“ Wenn ich nicht wüsste, dass Anders einer der vertrauenswürdigsten Menschen überhaupt ist, würde ich künftig den Bus nehmen.
Dann ist Endstation für mich. Aber da ich wenigstens am Hauptbahnhof einen internationalen Touch einfordere, folgt mir Anders nach draußen zu einem Sprechkasten und verkündet in akzentfreiem Deutsch, was wir geübt hatten: „Achtung, die Türen schließen!“
Das Adrenalin der Fahrt gibt mir tagelang emotionalen Auftrieb.
Endlich und etwas verspätet kommt das kräftskiva , das große Krebsessen, das Onkel Bertil wie vielen Schweden sehr am Herzen liegt. Angesichts der tristen Phase in Stockholm bin auch ich ganz aus dem Häuschen, wohlbekannte Gesichter zu sehen. Daher wäre ich sogar allein zu Lars’ Familie in die Prärie gefahren. Umso mehr freue ich mich aber, als mich am Vorabend jemand vom Flughafen Fuhlsbüttel aus anruft und verkündet, es sei ihm gelungen, früher ins Wochenende zu starten und einen Flug zu bekommen.
Es ist fast wie an Mittsommer, als Lars und ich in einem Golf übers Land tuckern, vorbei an Elchschildern und endlosen Birkenwäldern, und mutmaßen, was Bertil so alles geplant und gebrannt hat. Diesmal parken wir vor dem Haus der Albertssons, einem pastellgelben Holzgebäude mit unzähligen angrenzenden pastellgelben Schuppen. In einem,der innendrin aussieht wie eine Greta-Garbo-Gedächtnisstätte, entdecken wir Bertil, der im Begriff ist, einen Bastkorb mit Schnapsflaschen zu beladen.
Als er uns erkennt, hält ihn nichts mehr. Wir werden gedrückt, geküsst und ein wenig mit der weißen Farbe bekleckert, mit der Bertil kurz zuvor die Fensterläden nachgestrichen hat. Schließlich muss alles perfekt sein. Seit der Wiederkehr aus Stockholm hat Bertil seine Frau Elsa damit verrückt gemacht. Da sie versucht hat, seinen Wünschen halbwegs nachzukommen, biegen sich im Garten die Tische unter dem Essen, das uns Bertil als sein alleiniges Werk verkaufen möchte. „Bei Gastfreundschaft“, flüstert er mir zu, „verstehe ich keinen Spaß!“ Dann empfiehlt er sich und verschwindet ins Haus, um sich für den Festschmaus herauszuputzen.
Währenddessen füllt sich der Garten. Lars’ Eltern kommen mit Beerenkuchen um die Ecke, Schwester Malin mit einem erkennbaren Schwangerschaftsbauch und Bruder Stig mit einem Bündel kubb- Hölzer. Offenbar steht ihm der Sinn nach Revanche. Alle gegen eine.
Die Stimmung ist ausgelassen – und kocht über, als Onkel Bertil die Veranda betritt und zur Bühne macht. Er trägt ein Lätzchen, das man eher einen Latz nennen sollte, da es den vollen Umfang seines Oberkörpers abdeckt. Er ist der einzige dicke Mensch, den ich in der schwedischen Wildbahn gesehen habe, von Gunillas Kundschaft einmal abgesehen. Auf diesem Latz jedenfalls jonglieren grinsende Krebse. Und das soll noch nicht alles gewesen sein. Bertil vergewissert sich unserer Aufmerksamkeit und klatscht gegen ein schwarzes Etwas in seiner Hand, das zu einem Zylinder auseinanderspringt. Gönnerhaft eröffnet er das Krebsbuffet und ermahnt jeden dazu, ein Papierhütchen aufzusetzen und alles zu essen, was nur irgendwie Platz habe. Er weiß, wie man sich in Szene setzt.
Wie immer bei solchen Festen wird viel und viel Verschiedenes verdrückt. Allen voran die Krebse, die eigentlich das ganze Jahr über erhältlich sind. Diese aber hat Bertil in den Nächten mit surströmming geangelt, das erzählt er zumindest. Auch Lars’ Vater ist der Meinung: „Einem echten Schweden schmecken Krebse nur in der säsong. “
Seit Monatsbeginn sind die Zeitungen vollgestopft mit Testberichten über das diesjährige Angebot, Rezepte von Prominenten und Benotungen des Geschmacks in ausführlichen Skalen. Ich kann mir nicht helfen: Die Vorstellung, den Tieren die Scheren abzudrehen und aufzubeißen, Gelenke und Panzer zu knacken, um dann den Darm zu entfernen, gefällt mir nicht. Bertil hingegen schlürft genüsslich, während ihm die Dillsoße übers Kinn läuft. Dann rupft er den Schwanz vom nächsten Tier und spritzt Elisabet den Saft aus dem Fleisch in die Augen. Nach einem Höflichkeitshappen meinerseits, zwei Krabben als freundliche Zugabe und einem Bissen vom eingelegten Hering für Bertil labe ich mich an einem västerbottenpaj (einer Art herzhaften Käsequiche). Da der Onkel der Chef ist, wird noch deutlich mehr getrunken als gegessen. Zudem hat er
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