Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
für dich gewesen ist. Ich verstehe …«
»Du weißt es eben nicht, Jen! Nichts verstehst du!«, bricht es aus ihr hervor. »Das ist es ja genau. Keiner versteht es. Du hast ja keine Ahnung !«
»Wovon?«
»Wie ich mich fühle. Was es heißt, ich zu sein, mein Leben der letzten drei Jahre gelebt haben zu müssen. Hast du vielleicht neben meinem kleinen Bruder gesessen und seine Hand gehalten, bis du deine Finger nicht mehr gespürt hast, voller Angst, loszulassen oder einzuschlafen, weil er vielleicht nicht mehr da sein könnte, wenn du aufwachst? Hast du etwa dabeigesessen, als der Arzt reinkam und deinen Eltern seelenruhig verkündete, dass dein Bruder eine Gehirnblutung erlitten habe, die sich zu weit ausgebreitet hätte, um etwas zu unternehmen, weil er nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht worden war? Hast du die Worte mit anhören müssen – die deine Familie zerbrechen werden –, dass dein kleiner Bruder im Koma läge, aus dem er wahrscheinlich nie mehr aufwachen würde?«
Ich starre Juli an. Ich möchte sie in den Arm nehmen, aber die Person vor mir sieht so zerbrechlich aus, dass ich Angst habe, sie zu erdrücken, wenn ich das versuche. Sie würde es sowieso nicht zulassen.
»Das ist drei Jahre her.« Sie sieht auf die Uhr. »Zwei Stunden später als jetzt, da hat der Arzt es uns gesagt. Um Punkt zwei Uhr Nachmittags. Genau einen Tag nach dem Unfall ist meine Familie zerbrochen. Du hast am selben Tag eine kleine Schwester bekommen, als ich meinen kleinen Bruder verloren habe.«
»Du hast ihn doch nicht verloren –«
»Aber so gut wie«, sagt Juli, ehe ich den Satz beenden kann.
Ich beiße mir innen in die Wange.
»Und jetzt ist es zu spät, um etwas zu machen.«
»Was meinst du, es ist zu spät?«, frage ich.
Juli schüttelt den Kopf. »Vergiss es. Sag jetzt bloß nicht, dass du weißt, wie schwer es gewesen ist. Okay?« Sie lässt die Steine, die sie in der Hand gehalten hat, fallen und geht zu den anderen hinüber. »Gehen wir zurück?«, sagt sie zu ihnen. »Mir reicht es hier jetzt.«
Sally und Christine stehen auf. »Ja, komm, gehen wir zu mir nach Hause«, sagt Sally. »Ich lackiere dir die Nägel und steck dir die Haare hoch, und dann können wir in den Spielsalon gehen und sehen, wer da ist.«
»Gut. Egal, was. Lasst uns nur gehen«, sagt Juli und macht sich auf den Weg. Christine und Sally folgen ihr kichernd und tratschend.
Ich laufe Juli nach. »Juli, was soll das – die Haare hochstecken? Die Nägel lackieren? In den Spielsalon gehen, um Jungs zu treffen? Das ist doch nicht die Juli, die ich kenne!«
»Genau, du hast recht – ich bin auch nicht scharf auf solche Sachen. Passt nicht zu mir, ist nicht, was ich will. Okay? Zufrieden? Aber wie kann ich ihnen das begreiflich machen? Jenny, verstehst du nicht? Ich bin nicht mehr die Juli, die du gekannt hast. Darum geht es. Ich weiß selbst kaum noch, wer ich bin. Ich weiß, dass sie mich fast die ganze Zeit wie eine Idiotin behandeln, und die albernen Sachen, über die sie reden, sind mir piepegal – aber was bleibt mir denn übrig? Ich habe einfach nicht die Kraft, ihnen zu sagen, dass sie sich verpissen sollen.«
Du hast doch mich , will ich sagen. Ich kann stark genug für uns beide sein, wenn du das brauchst. Aber ich halte den Mund. Ich will nicht einen neuen Streit heraufbeschwören.
»Und weißt du noch etwas?«, fährt Juli fort. »Du bist auch nicht mehr die Jen, die ich mal zu kennen geglaubt habe.«
Ich sehe sie lange an. »Nein, bin ich nicht«, sage ich schließlich. »Und weißt du, was? Es wird Zeit, dass ich das beweise. Es ist an der Zeit, dass jemand für uns beide einsteht.«
Ich drehe mich um und warte auf die Barbies. »Hallo, ratet mal, was?«, sage ich. »Juli hatte keine Lust auf euch. Sie hat kein Interesse daran, hinter Jungs herzulaufen, die nur mit euch reden, weil sie euer Engagement für die arme trauernde Freundin so toll finden. Und kein Mensch muss Juli die Nägel lackieren oder sie frisieren. Sie ist ganz in Ordnung, so, wie sie ist. Ach ja, und der nächste Superstar geht ihr am Arsch vorbei – und sie weiß nicht mal, wer dieser Gary ist, und kümmern tut er sie schon gar nicht! Ihr könnt eure dämliche, oberflächliche Welt für euch behalten, und euer blödes Getue – hach, wir sind so toll, wir kümmern uns um das Mädchen, dessen Bruder im Koma liegt –, dieses Gutmenschgetue könnt ihr genauso vergessen, weil, sie nimmt es euch nicht mehr ab – und ich auch
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