Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
rekapitulieren. Komm schon, Jenny. Denk dran, du bist jetzt fünfzehn. Die Welt der anderen ist drei Jahre weiter. Raff das endlich mal.
»Es tut mir leid, Karen«, sage ich und versuche, meine Stimme möglichst natürlich klingen zu lassen. »Es war so unerwartet. Ich muss mich noch dran gewöhnen.«
»Dran gewöhnen?«, wiederholt Dad. »Dazu hast du sechs Monate Zeit gehabt! Wir haben doch besprochen, dass Karen mitkommt. Du hast gesagt, dass du einverstanden bist.«
Sechs Monate?
Karen steht auf. »Jetzt mach ich aber Tee«, sagt sie und legt mir im Vorübergehen leicht die Hand auf den Arm.
»Ich dachte, du magst Karen«, sagt Dad mit gedämpfter Stimme. »Ich dachte, ihr versteht euch gut.«
»Ich … ich …« Sag das Richtige. Tu so, als ob du weißt, wie die Dinge stehen . »Tu ich auch«, sage ich schließlich. Es ist ja wohl nicht Dads Fehler, dass ich der Ansicht war, er und Mum seien noch zusammen – gestern zumindest. In meiner Welt. In meiner verqueren, unmöglichen Welt.
»Also, kannst du dich dann vielleicht auch bitte so verhalten?«, sagt Dad streng. Dann wird seine Stimme etwas freundlicher. »Wir haben das doch so oft besprochen. Ich weiß, dass es schlimm für dich ist – manchmal ist es auch für mich schlimm. Du weißt, dass ich deine Mutter immer lieben werde, und es wäre super gewesen, wenn wir es auch geschafft hätten, zusammenzubleiben. Haben wir aber nicht – und wir sind beide zufrieden, wie die Dinge jetzt laufen. Einigermaßen zufrieden. Kannst du dich nicht auch damit zufriedengeben?«
Ich nicke. Mir dreht sich der Kopf.
»Danke.« Dad nimmt seine Zeitung wieder auf. »Es gibt bald Mittagessen, in Ordnung? Versuche höflich zu sein.«
»Mach ich«, verspreche ich. »Wo ist Craig?«
»Unterwegs mit Freunden. Er kommt auch bald.«
»Und wo ist Thea?«, frage ich, denn mir fällt plötzlich ein, dass ich ja auch noch eine kleine Schwester habe.
Dad wirft mir einen bösen Blick zu.
»Was ist?«, frage ich.
»Du weißt ganz genau, dass Thea bei deiner Mutter ist, Jenny, bitte hör auf, uns das Leben schwer zu machen.«
»Das will ich ja gar nicht –« Ich seufze. »Vergiss es«, sage ich. »Ich gehe in mein Zimmer.«
Ich gehe in das Zimmer, das ich mit Craig teile, und lasse mich auf mein Bett fallen. Seine Seite ist ein einziges Chaos. Schmutzige Khakihosen, auf links gedrehte Jeans und zerknüllte T-Shirts liegen auf dem Boden herum. Dies Jahr sind keine Teddys mehr auf seinem Kopfkissen. Auf dem Boden neben seinem Bett steht ein Chemie-Experimentierkasten.
Meine Seite ist aufgeräumt, das Bett ist gemacht, die Kleider sind eingeräumt. Ich setze mich auf und sehe mich um. Vielleicht finde ich ja irgendwo einen Anhaltspunkt. Etwas, das mir hilft, diese ganze Geschichte zu erklären, die Teile zusammenzusetzen. Oder noch besser – etwas, das mir hilft, darauf zu kommen, wie ich zurückfinde. Es ist fast, als würde ich ein Puzzle machen; das einzige Problem ist, dass die Teile aus drei verschiedenen Spielen stammen und alle durcheinander sind.
Ich krame zwischen den Sachen auf der Kommode herum. Die meisten gehören Craig. Kaputte Spielzeugautos, deren Räder abfallen, ein Taschenmesser, zerknüllte Papiertücher und Papierfetzen, eine Lupe. Auf meiner Seite stehen nur wenige Dinge: eine Parfümflasche, zwei Halsketten, Mascara. Wimperntusche! Ich kann mir gar nicht vorstellen, Make-up zu tragen. Dad hat doch immer behauptet, ich sei noch zu jung und die Tatsache ignoriert, dass die Hälfte der Mädchen in meiner Klasse gestylt wie Models in die Schule kommen. Damit Dad nicht merkt, dass sein Baby erwachsen wird, habe ich mich nur manchmal geschminkt, wenn ich bei Juli war.
Keine Anhaltspunkte. Nichts, was mir helfen würde, das neue Spiel, das sich mein Leben nennt, zu spielen.
Ich wende mich wieder dem Bett zu und werfe einen Blick auf den Nachttisch. Vielleicht ist da ja was drin. Ich ziehe die Schublade heraus. Ein Buch. Ich nehme es heraus. Natürlich – mein Tagebuch! Ich überfliege die Seiten und suche nach dem letzten Eintrag. Das Datum ist letzter Samstag.
Ich hoffe, Juli kommt diese Woche auch in ihr Ferienapartment. Ich hätte so gerne, dass es wieder so ist wie früher. Vielleicht können wir dort den Versuch machen, neu anzufangen. Vielleicht endet es diesmal ja nicht mit einem großen Streit. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mit ihr reden soll. Es kommt mir vor, als würde alles, was ich mache, eine Auseinandersetzung auslösen.
Weitere Kostenlose Bücher