Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Vielleicht hat sie ja recht und wir sollten den Versuch einfach aufgeben – aber das kann ich nicht. Ich will sie zurückhaben.
Letzten Samstag in der Disco war es furchtbar. Ausnahmsweise bin ich mal mit Natalie und den anderen losgezogen und habe wenigstens versucht, mal Spaß zu haben. Ich hatte fast vergessen, wie schrecklich das letzte Jahr war, aber Julis Gesicht, als sie mich dort sah – es war so entsetzlich. Sie hat mich angesehen, als ob ich eine eklige Kanalratte wäre. Als ob ich nicht das Recht hätte, irgendwo zu sein, wo sie sein wollte. Als ob wir nicht bis vor ein paar Jahren alles wie Zwillinge geteilt hätten. Natalie meint, es wäre wohl das Beste, sie in Ruhe zu lassen. Stimmt wahrscheinlich, aber – ach, ich weiß auch nicht. Sie fehlt mir einfach so sehr.
Wenn ich nur mein altes Leben zurückhaben könnte. Nichts ist, wie es war. Nichts wird jemals wieder so sein.
Wenn ich doch nur nie in den blöden Fahrstuhl gestiegen wäre.
Immerhin habe ich den Brief. Keiner weiß davon. Ich weiß, dass ich Mrs Smith eines Tages wiedertreffen werde – und vielleicht können wir uns dann gegenseitig aus diesem Schlamassel helfen. Wenn ich ihr helfen kann, glücklich zu werden, wird vielleicht alles anders. Wenn ich einfach mal eine Sache richtig machen würde.
Der Brief! Natürlich! Alles, was mit Juli zu tun hat, hat mich so in Anspruch genommen, dass ich ihn ganz vergessen hatte! Ich weiß ja immer noch nicht, was darin steht.
Ich ziehe die Seiten aus der Tasche und entfalte sie.
Lieber Bobby,
ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst. Eigentlich bezweifle ich es sehr. Ich bin das Mädchen, mit dem du sorglose Zeiten verbracht und kindische Träume geschmiedet hast – vor vielen Jahren.
Jedes Jahr haben wir zur gleichen Zeit eine Woche Ferien gemacht – im Riverside Hotel –, und ich muss dir sagen, die Wochen zählen zu den glücklichsten meines Lebens.
Ob du dich an die Tage erinnern kannst oder nicht – ich wollte dir sagen: Ich habe sie niemals vergessen.
Um genau zu sein, haben die Erinnerungen in den vergangenen Jahren ihr Spiel mit mir getrieben, und unser gegenseitiges Versprechen hat mich verfolgt. Weißt du noch, was wir uns versprochen hatten?
Doch zunächst sollte ich dir sagen: Mein Leben ist recht zufriedenstellend verlaufen, zumindest so glücklich, wie es eben laufen konnte, gemessen an meinen recht ungewöhnlichen Bedingungen. Aber davon später mehr. Erst mal möchte ich dir Folgendes erzählen, und wenn es auch etwas theatralisch und seltsam klingt, muss ich mir doch zumindest keine Gedanken machen, wie du darauf reagieren wirst. Ich kann dir meine wahren Gefühle darlegen, ich kann alles vor dir ausbreiten – weil ich weiß, dass du diesen Brief nie lesen wirst. Aus diesem Grund sage ich dir die Wahrheit – die Wahrheit, die ich nie laut ausgesprochen habe und die sonst keine Seele kennt. Das Geheimnis, das in meinem Herzen verwahrt war wie ein Flaschengeist in seiner Flasche.
Mein Geheimnis ist, dass ich dich immer geliebt habe und immer lieben werde.
So, nun ist es heraus. Und es entspricht der Wahrheit. Aber es führt zu nichts. Deshalb schreibe ich diesen Brief, um die Gefühle loszuwerden und ruhen zu lassen, ehe sie mir noch mehr meiner Jahre stehlen können und mich noch länger festhalten mit der Macht, die sie über mich haben. Und deshalb, Bobby …
Die Haustür wird zugeschlagen. »Bin zurück!«, ruft eine Jungenstimme. Craig. Einen Augenblick später trampelt er die Treppe herauf. Schnell falte ich den Brief zusammen, lege ihn in mein Tagebuch und stecke beides in die Nachttischschublade.
Craig taucht an der Tür auf. Ein großer Junge mit verschmutztem Gesicht und schlammverspritztem T-Shirt, stacheligem, gegeltem Haar, aber immer noch mit kindlich aufmüpfigem Blick. »Was machst du?«, fragt er mit erwachsener, ernst zu nehmender Stimme.
Ich stehe vom Bett auf und nehme ein paar von seinen Sachen. »Aufräumen.«
Er zuckt mit den Schultern. Dann sieht er mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du da eigentlich für Sachen an?«
Ich zupfe an meinem T-Shirt. »Ich …«
»Mittagessen!«, ruft Dad aus dem Wohnzimmer. »Craig, zieh dich um.«
Craig holt ein frisches T-Shirt aus dem Schrank und verschwindet im Bad. Ich mache hinter ihm die Tür zu, nehme mir ein paar Klamotten aus dem Schrank und ziehe mich ebenfalls um. Wenigstens sehe ich jetzt normal aus, auch wenn ich mich nicht so fühle.
Wir sind gerade mit dem
Weitere Kostenlose Bücher