Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Stimme ist nur noch ein Piepsen, als würden die Wörter in ihrer Kehle zusammengepresst und erwürgt.
»Juli, wovon redest du?«, frage ich noch einmal und gehe einen Schritt auf sie zu.
Sie wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. »Ich kann nicht … ich kann nicht … Bitte, lass es einfach auf sich beruhen, Jen.«
Ein Blick auf ihr tränenüberströmtes Gesicht sagt mir, dass die Lage ernst ist. »Nein, ich lasse es nicht auf sich beruhen«, entgegne ich fest. Ein kleiner Teil von mir verspürt einen winzigen Schock. Noch nie habe ich zu Juli nein gesagt!
Juli sieht mich an. Sie holt tief Luft, und als sie redet, ist es nur wie ein geflüsterter Windhauch. »Weißt du noch, als ich letztes Jahr so gemein zu dir war? Ich habe gesagt, du sollst aufhören, in einer Phantasiewelt zu leben? Und auf Mum und Dad war ich böse, weil sie sich an die kleinste Hoffnung klammerten?«
»Ich kann mich erinnern«, sage ich. Ist ja auch nicht schwierig, weil es in meiner Welt erst ein paar Stunden her ist.
»Da hatte ich unrecht.«
»Inwiefern? Womit hast du unrecht gehabt?«
»Ich dachte, es sei besser für uns alle, wenn wir der Wahrheit ins Auge blicken würden. Aber jetzt will ich die Illusionen zurück«, sagt sie.
Ich bleibe stehen und sehe sie an. »Juli, was versuchst du mir zu sagen?«
Auch sie bleibt stehen. »Seit einem Jahr gehen sie zu einem Therapeuten. Mich haben sie auch ein paarmal mitgeschleppt. Er hat ihnen geholfen, die Tatsachen zu akzeptieren. Er hat uns allen geholfen, mit der Wirklichkeit zurechtzukommen. Mit dem, was uns die Ärzte seit drei Jahren sagen. Dass wir das Unausweichliche nur hinauszögern.«
Ein eiskaltes Gefühl, das ich mir nicht erklären kann, fährt mir durch den Körper. Es kriecht mir den Rücken hinauf, über den Nacken und setzt sich in meiner Kehle fest. »Ich weiß nicht, was du meinst«, stammele ich. »Was versuchst du mir zu sagen?«
Julis Schultern zittern, und sie lässt den Kopf hängen. Ihre Antwort ist kaum zu hören. »Sie wollten, dass wir hierherkommen, um die Entscheidung zu treffen – an den Ort, wo es passiert ist, den letzten Ort, wo wir alle miteinander glücklich waren. Wir haben gestern Abend darüber geredet und haben uns gemeinsam entschieden. Wir haben nach einem Ausweg gesucht, aber wir haben uns so lange an Strohhalme geklammert, jetzt können wir uns an nichts mehr klammern.«
»Was habt ihr entschieden?«, frage ich, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, was sie sagen will.
»Wir teilen es den Ärzten mit, wenn wir nach Hause kommen: Es ist an der Zeit, die Maschinen abzustellen.« Julis Augen sind grüne Tränentümpel. »Mein kleiner Bruder wird sterben.« Und mit diesen Worten fällt sie mir in die Arme und schluchzt so herzzerreißend, dass ihr ganzer Körper geschüttelt wird. »Ich halte es nicht aus, Jenny. Mein kleiner Bruder. Ich werde ihn endgültig verlieren.«
Ich schlinge die Arme um sie, so fest ich kann, und versuche, nicht mit ihr zu weinen. Ich muss stark sein für sie – und ich werde alles für sie sein, was sie braucht.
»Ach Juli, wenn ich es nur rückgängig machen oder ändern könnte«, sage ich und halte sie fest. »Ich wünsche das mehr als alles in der Welt.« Der kleine Mikey. Ich habe ihn doch vor zwei Tagen noch gesehen. Genau hier. Und nun … Es ist unvorstellbar. Es ist nicht auszuhalten.
»Ich weiß«, sagt sie. »Das würde ich auch gerne. Ich habe es mir drei Jahre lang jeden Tag gewünscht – gewünscht, dass wir damals schneller gehandelt hätten. Die drei Stunden von dem Zeitpunkt, als es passiert ist, bis zu dem, als sie ihn endlich untersucht haben – wie können so ein paar mickrige Stunden so viel ausmachen? Selbst eine Stunde hätte vielleicht gereicht, um ihm zu helfen, dann wäre es noch früh genug gewesen, um die Blutung zu stillen, bevor sie sich zu weit ausgebreitet hatte; er hätte noch operiert werden können. Keiner wird je wissen, wie sehr ich mir die drei Stunden zurückgewünscht habe – wie ich mir gewünscht habe, ihn nicht zum Galoppieren überredet zu haben auf dem blöden Pferd, und ich habe mir auch gewünscht, ich hätte ihm nicht geglaubt, als er nach dem Sturz gesagt hat, dass er in Ordnung sei.«
»Juli, es ist nicht deine Schuld.«
»Ich weiß. Ich weiß. Das habe ich hinter mir. Ich weiß, dass niemand etwas dafür kann. Und ich weiß, dass es auch niemand ändern kann. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und Dinge ungeschehen machen. Aber ich
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