Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Essen fertig, als es an der Tür zaghaft klopft.
»Ich geh hin.« Craig springt vom Tisch auf.
Einen Moment später ruft er aus der Diele nach mir. »Es ist Juli«, sagt er im Hereinkommen und setzt sich wieder an den Tisch.
»Juli?« Dad macht ein überraschtes Gesicht. »Ich dachte, ihr zwei hättet euch verkracht?«
»Wir … das stimmt. Vorbei«, sage ich murmelnd und stehe vom Tisch auf.
»Ihr habt euch also wieder versöhnt?«
»Hmm. Ich weiß nicht so recht. Ich glaube schon, vielleicht«, sage ich zögernd.
»Aber das ist doch schön, nicht?«, sagt Dad und lächelt Karen zu.
»Kann ich raus?«, frage ich.
»Na sicher, Schätzchen«, kommt die Antwort von Karen. Sie legt Dad die Hand aufs Knie. Es ist seltsam, das zu sehen.
»Danke.« Ich eile zur Tür.
Juli wartet draußen. Sie lächelt mir zaghaft zu. Ich schließe die Tür hinter mir und trete zu ihr. »Sollen wir ein bisschen gehen?«, fragt sie.
»Gerne!« Eine Weile laufen wir stumm nebeneinander her, den Weg flussaufwärts entlang, wie vorhin, aber in umgekehrter Richtung.
»Hör mal, das von heute Morgen tut mir leid«, sage ich schließlich. »Ich hätte nicht so austicken sollen. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war.«
»Ich auch nicht«, sagt sie lachend.
Ich verziehe das Gesicht. »Hätte ich nicht tun sollen«, wiederhole ich.
Juli nimmt mich beim Arm. Ich bleibe stehen. »Doch, das war richtig«, sagt sie ernst. »Es war genial. Wie ein elektrischer Schock.«
»Wie meinst du das?«
Juli schüttelt den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Als ob du mich wachgerüttelt hast. Dich so zu erleben. So was hast du noch nie gemacht. So war ich sonst immer, oder nicht? Ich hab immer den Ton angegeben. Ich war die Patzige, die immer verkündet hat, wo es langgeht.«
»Das kannst du wohl sagen.« Ein Lächeln kriecht mir in die Mundwinkel.
»Ich wollte immer gerne mehr wie du sein.«
Das haut mich fast um. »Mehr wie ich?«, stoße ich hervor. »Wieso wolltest du denn wie ich sein?«
Juli tritt beim Weitergehen mit den Schuhspitzen nach den Steinen. »Du bist so ruhig und zuverlässig. Nimmst die Dinge, wie sie kommen, und die Menschen, wie sie sind. Und so sind sie dann auch zu dir. Du bist so leicht zufriedenzustellen.«
»Vielen Dank auch!«
»Nein, das meine ich nicht negativ. Ich meine … ich meine, du bist bescheiden, mit kleinen Dingen zufrieden, du bist so cool. Du musst nicht immer im Mittelpunkt stehen, um dich wohlzufühlen.«
»Aber du stehst im Mittelpunkt, weil du so unterhaltsam bist.«
Juli bleibt wieder stehen und sieht mich an. »Findest du mich jetzt noch unterhaltsam?«
Darauf erwidere ich nichts.
»Das ist mein Problem, verstehst du? Das ganze Leben war ich so, aber ich kann es einfach nicht mehr, und jetzt klappt auf einmal nichts mehr.«
»Was klappt nicht mehr?«
»Alles, was ich mache. Mein Leben«, sagt sie. Ihre Stimme klingt düster und hohl. »Ich spiele Theater, damit die Leute glauben, dass ich zurechtkomme, dass ich einigermaßen glücklich bin. Das erste Jahr nach dem Unfall habe ich damit zugebracht, mich um Mum und Dad zu kümmern, im zweiten Jahr bin ich selbst zusammengeklappt, und jetzt im dritten – ich weiß überhaupt nicht, wo es abgeblieben ist. Als ob ich mich ganz in Luft aufgelöst habe. Ich bin nur noch ein hauchdünner Abklatsch von dem, was ich mal war – und du hast den ganzen Schwindel aufgedeckt.«
»Wie hab ich das gemacht?«
Juli lächelt zaghaft. »Du hast mich daran erinnert, was wahre Freundschaft ist.«
Ich merke, wie meine Wangen brennen. Einen Moment lang scheint sich alles gelohnt zu haben. Alles, was ich in diesen letzten paar Tagen durchgemacht habe. Alles wird doch wieder gut! Selbst, wenn ich für immer in der Zukunft stecken bleibe – Juli ist wieder an meiner Seite. Wir werden immer beste Freundinnen bleiben. Ich kann ihr alles erzählen, und wir helfen einander, mit allem fertig zu werden. Sie hilft mir, die Gedächtnislücken zu schließen, und ich helfe ihr, mit allem umzugehen, das ihr widerfahren ist. Eine Riesenlast fällt von mir ab, als ob sie sich in die Lüfte erhebt und davonfliegt.
Doch dann spricht Juli weiter, und die Last macht kehrt wie ein Bumerang und schlägt mir voll in die Magengrube.
»Aber das reicht leider nicht aus«, sagt sie.
»Was? Was reicht nicht aus?«
»Egal, was. Es ist zu spät.«
»Ich verstehe dich nicht. Für was zu spät?«
Juli schüttelt den Kopf. »Für alles«, sagt sie schließlich. »Für alles.« Ihre
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