Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Juli wäre stolz auf das, was ich gleich machen werde. Ob ich es ihr je erzählen kann? Und ob sie es mir dann glaubt?
Ich habe keine Zeit, mir den Kopf über Fragen zu zerbrechen, die ich nicht beantworten kann. Ich muss anfangen.
Mit einem kurzen Blick in die Runde, um sicherzugehen, dass niemand sieht, was ich gleich machen werde – und mit einer stummen Entschuldigung für etwas, das jeder für einen Akt sinnloser Zerstörung halten würde –, hebe ich die Axt über die Schulter, hole tief Luft und schlage sie so fest ich kann in die Wand.
Geschafft. Ein Loch ist in der Wand. Dahinter kann ich die Metalltür des Fahrstuhls sehen. Er ist noch da, ein Stück hinter der Gipswand, genau wie früher.
Jetzt muss ich nur an den Knopf kommen. Immer wieder hebe ich die Axt hoch und schlage auf die Wand ein, bis das Loch groß genug ist, um den Knopf zu erreichen. Hinter dem Gipskarton taste ich herum. Da ist er. Der Knopf. Ich drücke darauf und warte.
Nichts passiert.
Das Loch ist jetzt groß genug, dass ich durchklettern kann, aber ich kann nicht in den Fahrstuhl – ich stehe vor der geschlossenen Tür. Was nun? Das ist doch meine einzige Chance, etwas zu ändern.
Wieder drücke ich auf den Knopf. Bitte, bitte, bitte, funktioniere! Ich mach auch alles. Ich will die beste beste Freundin der Welt sein und die bravste Tochter. Ich werde nur noch an andere denken, nicht mehr an mich. Ich will auch immer hart arbeiten. Nur bitte lass mich in den Fahrstuhl kommen!
Und da höre ich ihn. Das Sirren. Ich mache einen Satz. Es klappt. Er kommt! Mein Herz schlägt so fest an meinen Brustkorb, dass es schmerzt.
Ich öffne die erste Tür weit genug, um mich hineinzuzwängen, dann schiebe ich die innere Gittertür auf. Ohne einen weiteren Gedanken schließe ich die Türen hinter mir, drücke auf den Knopf mit EG und halte den Atem an, während sich der Fahrstuhl ratternd in Bewegung setzt.
Der klappernde Fahrstuhl bewegt sich noch langsamer und ruckelnder nach unten als letztes Mal. Es klingt, als ob Metallteile von ihm in den Schacht darunter fallen. Schließlich kommt er bebend zum Halt, und ich schiebe das Gitter zur Seite, stoße die äußere Tür auf und trete hinaus. Ich sehe mich noch mal um, denn ich will sicher sein, dass der Fahrstuhl nicht verschwindet, kaum dass ich ihm den Rücken zukehre. Tut er nicht. Er ist noch da.
Ich sehe auf die Uhr. Viertel vor zwei.
Viertel vor zwei? Mein Herz fällt so tief, als ob es selbst in den Schacht stürzt. Was habe ich mir nur gedacht? Ich bin ja komplett und total verrückt! Unmöglich, rechtzeitig ins Krankenhaus zu kommen. Es dauert mindestens zwanzig Minuten mit dem Auto. Eine halbe Stunde, wenn jemand anderes fährt als Dad.
Jetzt wird es mir klar: Selbst wenn ich es ins Krankenhaus schaffen würde, was könnte ich schon ändern? Ich habe mir etwas vorgemacht – in die Vergangenheit zurückzueilen und zu versuchen, etwas aufzuhalten, das eintreten wird, ob ich nun dabei bin oder nicht. Ich wollte so dringend helfen, dass mir gar nicht klar war, dass ich vor allem den Unfall ungeschehen machen müsste – und es gibt nichts , wie ich das bewerkstelligen könnte. Er ist schon eingetreten, und es gibt keine weiteren Knöpfe in dem Fahrstuhl, die ich drücken könnte. Ich kann nirgendwohin. Ich kann gar nichts verändern.
Das Beste, auf das ich hoffen kann, ist, diesmal eine bessere Freundin zu sein.
Ich schnalle meinen Gürtel enger, weil die Jeans mir auf einmal wieder zu groß sind, gehe zurück in den Fahrstuhl, rutsche an der Wand zu Boden und lasse den Kopf in die Hände sinken. Vielleicht bleibe ich einfach hier zusammengekauert sitzen, verstecke mich in dem Fahrstuhl und hoffe, dass alles weggeht.
Aus der Eingangshalle höre ich ein Geräusch. Jemand ist von draußen hereingekommen. Ich springe auf.
»Jenny!«
»Craig?« Der sechsjährige Craig! Der süße, dumme, verstrubbelte Craig mit seiner Zahnlücke!
»Ich hab mir doch gedacht , dass du das bist!«, sagt er und grinst.
»Was machst du denn hier?«
Er deutet mit dem Daumen zurück auf die Tür. »Hab dich von draußen gesehen. Ich hab mit den Bauarbeitern geredet. Mum hat es mir doch erlaubt, weißt du nicht mehr?«
Ich klopfe mich ab und folge ihm in die Eingangshalle. »Komm, lass uns zur Wohnung zurückgehen.«
Draußen nehme ich ihn bei der Hand und versuche, normal zu wirken. »Und, was haben dir die Arbeiter denn dieses Mal erzählt?«, frage ich. Er soll ruhig drauflosreden, auch
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