Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
wünsche es mir trotzdem.«
Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Meine Arme fühlen sich plötzlich schwer an, und ich lasse Juli los.
Kann man das wirklich nicht?
Die ganze Zeit habe ich geglaubt, dass ich für immer in dieser Zukunft feststecke – aber es muss einfach einen Weg zurück geben. Es muss . Ich weiß, dass ich nicht weit genug zurückgehen kann, um den Unfall zu verhindern, aber wenn ich einfach nur in die alte Wirklichkeit zurückkehren könnte, in der Juli noch drei weitere Jahre hat, in denen ihr kleiner Bruder lebt! Sie die Jahre noch einmal erleben zu lassen. Und jetzt, nachdem ich weiß, was vor uns liegt, könnte ich ihr eine größere Hilfe sein; eine bessere Freundin; könnte an ihrer Seite sein, egal, was passiert. Wir könnten mehr Zeit im Krankenhaus verbringen und uns mehr um ihn kümmern; vielleicht könnten wir sogar Nachforschungen anstellen, etwas herausfinden, was doch noch eine Änderung bewirkt – vielleicht sogar einen Weg aus dem Koma! Wer sagt, dass das unmöglich ist?
Ich muss einfach etwas tun können. Ich muss es zumindest versuchen – sonst ist Mikey nächste Woche tot.
»Jenny, alles in Ordnung?« Juli starrt mich an.
»Was?«
»Alles in Ordnung? Du bist ganz blass geworden.«
Ich ziehe den Ärmel zurück und sehe auf die Uhr. Es ist halb zwei. In einer halben Stunde – vor drei Jahren – erhalten Juli und ihre Eltern die Auskunft, dass Mikey in ein Koma gefallen ist, das die Ärzte für endgültig halten. Ich muss bei ihr sein, wenn sie das erfährt. Wir müssen die ganze Sache anders angehen. Ich muss einen Weg finden.
»Ich muss gehen«, sage ich schnell.
»Du lässt mich im Stich? Jetzt, nach allem, was ich gerade erzählt habe?«
Ich nehme ihre beiden Hände in meine. »Juli, ich lasse dich nicht im Stich. Ich ändere es. Nicht alles, aber einen Teil. Damit es besser läuft.«
»Aber wie …«
»Ich habe jetzt keine Zeit«, sage ich und will gehen. »Vertraue mir, ja? Vertraust du mir?«
Sie nickt.
»Gut. Dann muss ich los.«
»Jenny«, sagt sie leise.
Ich bleibe neben ihr stehen. »Was?«
Sie schluckt. »Es tut mir leid. Alles. Es tut mir leid, dass ich dich weggestoßen habe.«
Ich lächle meiner besten Freundin zu. »Es muss dir gar nichts leidtun«, sage ich. »Überhaupt nichts. Alles wird gut. Du wirst schon sehen.«
Dann renne ich den Weg zurück zu Julis Trakt. Eine halbe Stunde. Ich habe eine halbe Stunde. Vielleicht schaffe ich es. Wenn ich nur zu dem Fahrstuhl komme und einen Weg finde, irgendwie noch einmal hineinzukommen. Das muss doch möglich sein. Ich kann doch nicht für immer in der Zukunft feststecken.
Ich stehe im dritten Stock vor dem alten Fahrstuhl. Berichtigung: dort, wo der alte Fahrstuhl war. Aber es gibt absolut kein Anzeichen, dass er jemals da war.
Vielleicht hat es gar keinen alten Fahrstuhl gegeben. Vielleicht habe ich mein Gedächtnis ja tatsächlich verloren. Oder mir diese ganze Geschichte eingebildet. Vielleicht verliere ich tatsächlich den Verstand. Ich lehne mich an die Wand und lasse den Kopf dagegen sinken. Es macht ein hohles Geräusch.
Hohl. Die Wand ist hohl. Das ist Gipskarton! Der Fahrstuhl muss immer noch dahinter sein! Vielleicht kann ich doch hinein. Mit den Fäusten hämmere ich an die Wand. Aber es ist sinnlos. Ich hole mir nur blaue Flecken.
Verzweifelt sehe ich mich um. Nichts. Alles so sauber und perfekt.
Da fällt mir der Wandschrank unten mit den Holzscheiten ein. Vielleicht …
Ich renne die Treppe hinunter. Die Stelle, wo der alte Fahrstuhl war, sieht genauso aus wie im dritten Stock: verputzt, übermalt, aber hohl und nicht so stabil. Doch im Moment will ich ja nicht den Fahrstuhl, ich suche die Wandschranktür. Ich reiße sie auf. Ein paar Besen lehnen an der einen Wand, ein Mopp in einem Eimer an der anderen. Ich überlege, ob sie mir nützen. Nicht kräftig genug.
Da entdecke ich etwas in der hinteren Ecke. Bingo! Die Axt, die Mr Barraclough wahrscheinlich benutzt hat, um das Holz zu spalten!
Ich packe sie und renne in den dritten Stock zurück. Ich muss mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss zurückfahren. Und ich muss mich beeilen!
Keuchend erreiche ich den dritten Stock. Meine Brust fühlt sich an, als ob sie eingeschnürt sei. Ich renne zu der Gipskartonwand mit dem Fahrstuhl dahinter.
Noch nie im Leben habe ich so etwas gemacht. Jenny Green macht keine solchen Sachen! Aber wenn man von den heutigen Ereignissen ausgeht, dann hat Jenny Green sich ja verändert.
Weitere Kostenlose Bücher