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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Getuschel gab, hatten wir davon nichts mitbekommen.
    Der Sender schaltete live ins Weiße Haus, wo der Präsident hinter einem gewaltigen Schreibtisch wartete, die Hände steif auf der Platte gefaltet. Eine große amerikanische Flagge hing schlaff neben ihm.
    Diverse Sitzungen unter Beteiligung führender Kongressmitglieder, einiger Vertreter des Weißen Hauses und der Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr und Inneres hatten einen radikal einfachen Plan hervorgebracht: Im Angesicht massiven globalen Wandels wurden wir, das amerikanische Volk, aufgefordert, genauso weiterzumachen wie immer.
    Mit anderen Worten, wir würden bei der 24-Stunden-Uhr bleiben.
    Meine erste Reaktion war Ungläubigkeit. Der Receiver zeigte ein leuchtendes 11:00 , aber der Tag neigte sich dem Ende zu. Mittlerweile hatten wir gelernt, die Uhren nicht zu beachten.
    »Ich kapier das nicht«, sagte ich. »Wie soll denn das gehen?«
    Die chinesische Regierung hatte denselben drastischen Schritt getan. Man rechnete damit, dass die Europäische Union nachzöge. Die Alternative, erklärte man uns, wäre verheerend.
    »Märkte brauchen Stabilität«, sagte der Präsident. »Es kann so nicht weitergehen.«
    Es erfordert eine gewisse Form von Mut, vermute ich, den Status quo zu wählen. Es liegt eine gewisse Kühnheit in der Tatenlosigkeit.
    Doch mir kam es vor, als verlangte man von uns das Unmögliche, eine so aussichtslose Strategie, als hätten sie vorgeschlagen, Seile um die Sonne zu schlingen und sie über den Himmel zu zerren.
    Ich wartete auf eine Reaktion meiner Mutter, aber sie seufzte nur ein lautes Seufzen. Ich drehte mich zu ihr um und sah sie, wie sie war: eine müde wirkende Frau auf einer Couch. Bestürzung hat wohl ihre Grenzen, schätze ich, selbst bei ihr.
    »Das wird niemals funktionieren«, meinte sie.
    Mein Vater sagte gar nichts. Das war eine seiner Spezialitäten, lernte ich zu der Zeit, die Fähigkeit, in allen entscheidenden Momenten zu schweigen, jeder Krise mit einer schlichten, unerschütterlichen Ruhe zu begegnen. Heute merke ich, dass ich diese Eigenart ein Stück weit von ihm geerbt habe.
    Mein Vater wandte sich wieder seinem Abendessen zu. Er aß seine Pizza mit Messer und Gabel, eine Papierserviette ordentlich über die Knie gebreitet.
    Das Grün des Baseballplatzes wurde abrupt wieder auf dem Bildschirm eingeblendet.
    So offenkundig die Folgen später sein sollten, waren mir die Auswirkungen des Vorhabens doch nicht sofort klar. Was sich allerdings schon sehr bald herausstellen würde, war Folgendes: Wir gerieten fast sofort aus dem Takt mit der Sonne. Licht würde von Tag entkoppelt, Dunkelheit von Nacht abgetrennt. Und nicht alle würden mitmachen.

10
    E s war natürlich freiwillig. Man zwang uns nicht, unsere Tage in vierundzwanzig kleine Stunden zu quetschen. Kein neues Gesetz wurde verabschiedet oder in Kraft gesetzt. Das hier war Amerika. Die Regierung konnte uns nicht vorschreiben, wie wir zu leben hatten. Aber in der Woche nach der Ankündigung des Präsidenten, als die Tage einen Rekord von zweiunddreißig Stunden erreichten, machten sich Regierungsvertreter unterschiedlicher Ebenen und aus verschiedenen Fachgebieten daran, uns von den Vorzügen des Plans zu überzeugen – und von der Dringlichkeit, ihn umzusetzen. Uhrenzeit , nannten sie es, die einzig praktische Lösung . Es sei eine Frage der ökonomischen Stabilität, sagten die Politiker, des Wettbewerbsvorteils und sogar, behaupteten manche, der nationalen Sicherheit.
    Heute weiß ich, dass die Uhrenzeit eine komplexe landesweite Debatte entfachte – mit der gleichen Anzahl von Abweichlern aus der extremen Linken wie aus der extremen Rechten –, aber in meiner Erinnerung passierte alles auf einmal, ein glatter Gezeitenwechsel, plötzlich und vollständig.
    Die öffentlichen Schulen sprangen sofort auf den Zug auf. Sämtliche Fernsehsender schlossen sich an. Die Unternehmen waren definitiv dabei – sie hatten durch Ineffizienz und Überstunden jede Woche Millionenverluste gemacht.
    Aber jeder Amerikaner hätte sich auch entschließen können, auf die Uhrenzeit zu verzichten und stattdessen bei Tageslichtzeit zu bleiben, oder was manche bereits Echtzeit nannten. Es stand uns immer noch frei, unseren Alltag auf das Kommen und Gehen der Sonne auszurichten, doch bald riskierten jene, die das taten, ihre Jobs zu verlieren oder kündigen zu müssen. Ihre Kinder könnten de facto nicht länger öffentliche Schulen besuchen. Sie würden dauerhaft

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