Ein Jahr voller Wunder
an der Gesellschaft vorbeileben. Jedes Zögern wäre dem Ausharren in einer evakuierten Stadt gleichgekommen, wo die Gebäude und Straßen zwar noch da sind, aber die Stadt , machen wir uns nichts vor, verschwunden ist.
Und so geschah es: Wir holten die Uhren zurück. Armbanduhren wurden um Handgelenke geschlungen. Batterien wurden ausgetauscht. Ich räumte die Bücher von meinem Nachttisch, so dass ich meinen Wecker wieder vom Bett aus sehen konnte. Die Taschenuhr meines Großvaters holte ich aus einer Schublade und legte sie auf meinen Schreibtisch.
Die Uhrenzeit begann an einem Sonntagmorgen um zwei Uhr, wie die Sommerzeit. Sie hatten einen Tag gewählt, an dem die Sonne mehr oder weniger im Einklang mit den Uhren aufging. In dieser Phase kamen solche gleichgetakteten Tage alle paar Wochen vor, wie Vollmonde. Die Abweichung würde sich im Laufe des Tages vergrößern, aber die Absicht war, uns langsam umzustellen.
An jenem Morgen ging die Sonne um 7:02 Uhrenzeit auf. Die Sonntagszeitung landete mit einem Plumps in der Auffahrt. Mein Vater mahlte den Kaffee früh, toastete Toast. Die Sonne schien wie üblich auf der Ostseite des Hauses. Die echten Unterschiede würden wir erst am nächsten Tag spüren, wenn wir – genau wie die Uhren – vollkommen aus dem Rhythmus der Sonne geraten würden.
»Das kann nicht gesund sein.« Meine Mutter blinzelte in ihrem grünen Frotteebademantel. Ihre Haare waren vom Schlaf völlig zerzaust.
Ich saß in einem Flanellschlafanzug neben ihr und knüpfte ein Freundschaftsband für Hanna. Sie hatte in ein paar Wochen Geburtstag, und ich wollte ihr das Armband als Geschenk schicken.
»Das ist noch das kleinste der möglichen Übel«, sagte mein Vater vom Tisch.
Die Katzen strichen um meine Füße herum, sie hatten Hunger auf Milch. Tonys knochiger Schwanz schnalzte im Vorbeigehen gegen mein Schienbein. Die Sonne schien in die Küche und fing sich in den Kupfertöpfen, die funkelnd über dem Edelstahlspülbecken hingen.
»Was sind die anderen Übel?«, fragte ich.
Meine Mutter füllte eine Kupferkanne mit Wasser für die beiden Knabenkräuter, die im Küchenfenster gediehen. Ihre Fürsorge für ihre Pflanzen hatte sich seit der Verlangsamung noch gesteigert, als hinge unser Überleben irgendwie von ihrem ab. Oder vielleicht hatte es auch einen ganz anderen Grund: Schönheit kann etwas sehr Tröstliches haben.
»Wisst ihr, was ich glaube?«, sagte meine Mutter. »Ich glaube, diese ganze Uhrenzeitsache ist ein Haufen Scheiße.«
Tony sprang mit den Pfoten voraus auf die Arbeitsfläche. Ich hob ihn hoch und setzte ihn auf den Fliesenboden.
»Wir werden es überleben«, sagte mein Vater.
Als Arzt war er bereits ein Nachtarbeiter, ein Tagschläfer, ein Kinder mitten in der Nacht zur Welt Bringer. Er war ein Geschöpf, dessen Körper sich schon vor Jahren daran gewöhnt hatte, seinen Biorhythmus zu ignorieren.
»Und was ist mit dem eigentlichen Problem?«, fragte meine Mutter. »Was wird da unternommen?«
Mein Vater las weiter die Zeitung, blätterte langsam durch die Seiten. Worüber in der Ausgabe jenes Tages natürlich noch nicht berichtet wurde, war der noch verwegenere, aber damals noch streng geheime Plan, den Wissenschaftler und Ingenieure in den staatlichen Laboren dieses Landes unter Hochdruck schmiedeten. Bald sollten wir von den Details – und der Vermessenheit – des berüchtigten, unseligen Virginia-Projekts erfahren. So absurd es auch war, man muss doch den Elan der Unternehmung bewundern, diesen unbändigen Glauben an die Möglichkeiten, den Cowboyoptimismus, den man braucht, um sich vorzustellen, dass ein bisschen menschliche Findigkeit tatsächlich die Erdrotation kontrollieren könnte.
»Moment mal«, sagte meine Mutter. Sie wedelte mit einem Glas Erdnussbutter in die Richtung meines Vaters. »Hast du das aufgemacht?« In der anderen Hand hielt sie das Beweisstück, das Messer. Auf der scharfen Seite glitzerte eine Schicht Extra crunchy .
Mein Vater am Tisch nahm einen Riesenbissen Weizentoast.
»Gottverdammt, Joel«, sagte sie. »Gottverdammt. Die wollte ich aufheben.«
Ich hielt den Blick fest auf das Armband gerichtet, das ich flocht, und wartete, dass der Streit vorüberginge. Es war eine komplizierte Struktur, die ich mir ausgesucht hatte, in Hannas Lieblingsfarben, und das Knüpfen der Knoten, einen nach dem anderen, das Entstehen des Musters unter meinen Fingerspitzen hatte etwas Beruhigendes, so ordentlich und geregelt und bedächtig.
Mein Vater
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