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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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unterschiedlichen Wolkentypen eingeprägt. Diese beiden hier waren Zirrus, die höchste, zierlichste Sorte.
    Noch höher als die Wolken, dreihundert Kilometer über mir, saßen sechs Astronauten – vier Amerikaner und zwei Russen – in einer Raumstation fest. Der Start der Raumfähre, die sie eigentlich zurückholen sollte, war auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Die komplexe Berechnung, die riesige kosmische Steinschleuder, die jahrzehntelang unsere Astronauten ins All und wieder zurück gebracht hatte, wurde vorerst als zu gefährlich eingeschätzt. Wann immer ich in dieser Zeit in den Himmel sah, dachte ich an ihre Familien, die darauf warteten, dass sie zurück nach unten auf die Erde kämen.
    Als ich die Straße überquerte, strich eine Meeresbrise durch den Eukalyptus und die Pinien. Ein einzelner Spatz segelte über den Himmel. Ich pflückte einen Löwenzahn aus dem Garten und schüttelte ihn im Wind, während unser Kater Tony mit dem Bauch nach oben auf der Veranda schlief. Die Bürgersteige flimmerten in der Sonne. Irgendwo bellte ein Hund. Ich fragte mich, was Hanna wohl gerade in Utah machte. Das war einer der letzten richtigen Nachmittage.

9
    E s gab immer schon Regionen auf der Erde, wo man der Sonne nicht trauen konnte, wo die Tage noch nie vom Aufsteigen und Untergehen unseres Sterns bemessen wurden. Auf gewissen abgeschiedenen Koordinaten ging die Sonne stets im Dezember unter und den ganzen Winter nicht wieder auf. Dort war der Sommer von jeher eine einzige Endlosschleife von Tageslicht, stand die Sonne gnadenlos am Juni-Nachthimmel.
    Das waren schwierige Orte. Bäume weigerten sich, zu wachsen. Es waren die uralten Fischersiedlungen des nördlichen Skandinaviens, die eisigen Hänge Sibiriens, die Inuit-Dörfer Kanadas und Alaskas. Für die Bewohner dieser Orte waren Nacht und Tag schon immer abstrakte Begriffe. Der Morgen brachte nicht unbedingt das Licht mit sich. Und nicht alle Nächte waren dunkel.
    Jene von uns, die in den südlicheren Breitengraden wohnten, standen kurz davor, eine für uns fremde, im Land der Mitternachtssonne jedoch längst vertraute Lebensweise kennenzulernen.
    Die Ankündigung erfolgte abends, vierzehn Tage nach dem Beginn der Verlangsamung. Sendungen wurden unterbrochen. Nachrichtensprecher schalteten sich mit einer Sondermeldung dazwischen. Ich erinnere mich noch an das Schmettern der Trompeten – die Erkennungsmusik des Senders bei Notfällen – mitten im Publikumslärm des siebten Spiels der Baseball World Series.
    »Du meine Güte«, seufzte meine Mutter. »Was ist denn jetzt wieder?«
    Wir hatten vor dem Fernseher gegessen, dampfende Teller mit Belisario’s Käsepizza auf den Knien. Es war ein guter Tag gewesen: An diesem Nachmittag hatte ich endlich von Hanna gehört – sie hatte mir eine fröhliche Postkarte mit einem Wüstenfoto geschickt. Meine Mutter hatte sich endlich etwas entspannt. Mein Vater trank ein Bier. Eine Packung Cookies-and-Cream-Eis wartete in der Gefriertruhe. Ein Fremder, der an diesem Abend an unserem Fenster vorbeilief, hätte unsere Stimmung an den Geräuschen ablesen können: Das klare Klacken von Baseballschläger auf Ball und das gemeinschaftliche Jubeln meiner Eltern. Wir waren glücklich.
    Aber jetzt nahm meine Mutter ihren Teller vom Schoß und stellte ihn auf den Couchtisch. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, als könnte sie so die Nachrichten besser hören. Ich war mir sicher, dass ihr Ansatz mit jedem Tag grauer wurde. Sie hatte ihren monatlichen Friseurtermin ausfallen lassen – und die Verlangsamung des Planeten hatte die Geschwindigkeit, mit der menschliches Haar wuchs, überhaupt nicht beeinträchtigt.
    Mein Vater saß neben ihr auf dem Sofa, sein Mund war plötzlich verkniffen. Ich sah, dass er auf der Innenseite seiner Wange kaute. Er nahm einen langsamen Schluck Bier.
    Der Himmel war immer noch hell – die Tage waren inzwischen auf über dreißig Stunden angewachsen.
    »Vielleicht haben sie herausgefunden, wie man das Ganze repariert«, sagte ich vom Fußboden, wo ich auf dem Bauch ausgestreckt bei den Katzen lag.
    Niemand antwortete etwas.
    Gerüchte mussten sich in gewissen Kreisen bereits vor der offiziellen Ankündigung verbreitet haben. Es musste frühe, unbestätigte Berichte gegeben haben. Sickern bedeutende Meldungen nicht immer schon durch, bevor sie es eigentlich sollen? Werden Geheimnisse nicht gewöhnlich ausgeplaudert? Anonyme Quellen lieben es, zu reden. Aber falls es über diese Entwicklung

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